E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit (Nr. 10, Oktober 2002, S. 273-276)


Hans-Dieter Evers (geb. 1935)
Die Bielefelder Schule der Entwicklungssoziologie: Informeller Sektor und strategische Gruppen

Thomas Bierschenk


Zwei Themen sind es vor allem, mit deren Untersuchung Hans-Dieter Evers - und die mit ihm zusammenarbeitenden Mitglieder der "Bielefelder Schule" - die entwicklungstheoretische und entwicklungspolitische Diskussion beeinflusst haben. Das erste ist die Subsistenzproduktion - in entwicklungspolitischen Kreisen gewöhnlich unter dem Etikett "informeller Sektor" diskutiert -, für die Evers und seine Kollegen gezeigt haben, dass ihre Funktion in erster Linie darin besteht, den formellen Sektor zu subventionieren: Sie stellt die Lebensbasis für die im formellen Sektor Beschäftigten bereit. Diese enge Verflechtung der beiden Sektoren drückt sich aus in der Bezeichnung als "Bielefelder Verflechtungsansatz". Das zweite Thema sind die "strategischen Gruppen": gesellschaftliche Akteure, die sich als Gruppe organisieren, um gleichgerichtete Interessen zu verfolgen, und die dadurch gesellschaftliche Veränderungen strukturieren. Evers hat seine Erkenntnisse nie allein am Schreibtisch gewonnen, sondern stets durch intensive Feldforschung unterbaut und weiterentwickelt. Damit hat er Einsichten bereitgestellt, die inzwischen in der entwicklungspolitischen Community zum Gemeingut geworden sind, und hinter die die Diskussion nicht mehr zurückfallen kann.



I. Leben

Hans-Dieter Evers, geboren am 19. Dezember 1935 in Dröbischau (Thüringen), studierte von 1957 bis 1962 Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Hamburg (bei Schiller und Schelsky), der University of Ceylon und der Universität Freiburg, wo er 1962 bei Arnold Bergstraesser promovierte. Anschließend war er an der Wirtschaftshochschule Mannheim, der Monash University in Melbourne, der Universität Yale und der Universität Singapur tätig, bis er 1974 als Professor für Entwicklungsplanung und Entwicklungspolitik an die Universität Bielefeld berufen wurde, wo er den Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie bis zu seiner Emeritierung Anfang 2001 leitete.

In Bielefeld arbeitete Evers in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren sehr eng zusammen mit einer Reihe jüngerer Kollegen (Johannes Augel, Veronika Bennholdt-Thomsen, Georg Elwert, Renate Otto Walter, Tilman Schiel, Georg Stauth, Claudia von Werlhof, Diana Wong), die sich als "Bielefelder Schule" der Entwicklungsethnologie verstanden und so auch von außen wahrgenommen wurden, die aber als Gruppe in diesem Artikel nicht dargestellt werden können. Während seiner Bielefelder Zeit war Evers immer wieder als Gastprofessor an Universitäten in Europa, den USA, vor allem aber in Malaysia, Indonesien und Singapur tätig. Seit seiner Emeritierung ist Evers Senior Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn.


II. Werk

Evers’ Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf das Thema der Durchsetzung der Marktwirtschaft mit ihren Folgen für die verschiedenen Bereiche von Kultur und Gesellschaft, mit zwei deutlichen Schwerpunkten: einerseits den Dynamiken des informellen Sektors, der Rolle der Subsistenzproduktion und den Strategien der Armen (Themen, die dann in den "Bielefelder Verflechtungsansatz" einflossen), andererseits der Rolle und den Praktiken von Eliten (Unternehmer, Bürokraten, Professionals, Händler), für die Evers den Begriff der "strategischen Gruppen" einführte. Mit diesen beiden Themenkomplexen erzielten Evers und seine Bielefelder Kollegen auch ihre größte Wirkung in der allgemeinen Entwicklungstheorie.

Daneben hat Evers zahlreiche religionsgeschichtliche Analysen, historische Studien, Arbeiten zur Soziologie der Entwicklungspolitik und, in jüngster Zeit, Studien zur Globalisierung und zur Entstehung von Weltgesellschaft verfasst. Empirisch haben sich Evers’ Arbeiten auf zunächst Süd-, später dann Südostasien konzentriert (hier vor allem auf Indonesien, Malaysia und Thailand), mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Stadtsoziologie (zusammenfassend jetzt Evers & Korff 2000).

Durch seine eigenen empirischen und theoretischen Beiträge, durch die enge Zusammenarbeit mit südostasiatischen Kollegen, durch die Betreuung zahlreicher Dissertationen (darunter viele von Doktoranden aus der Region geschrieben), vor allem aber durch die Herausgabe mehrerer Sammelbände, in denen wichtige Debatten zusammengeführt wurden (Evers 1969, 1975, 1980), gehört Evers seit Jahrzehnten zu den international führenden Köpfen der Südostasienforschung.


Der Bielefelder Verflechtungsansatz:
Informeller und formeller Sektor

Der Bielefelder Verflechtungsansatz teilt mit Dependenz- und Weltsystemtheorien die Prämisse, dass "Unterentwicklung" ein Ergebnis der Eingliederung von Ländern der Dritten Welt (als "Peripherie") in das kapitalistische Weltsystem ist. In Ergänzung zu den eher in makrohistorischen Dimensionen argumentierenden Dependenztheoretikern verfolgten die Bielefelder Entwicklungssoziologen jedoch ein Programm der theoriegeleiteten, vergleichenden empirischen Erforschung der sozialen Verhältnisse in den Peripherien. Angeregt wurde dieses Programm durch Arbeiten zur "Verflechtung von Produktionsweisen". Unter diesem Begriff hatten zunächst vor allem französische, in Afrika arbeitende marxistisch argumentierende Ethnologen (Terray, Meillassoux, Rey) versucht, den multistrukturellen bzw. "heterogenen" Charakter von peripheren Gesellschaften analytisch zu fassen und zu erklären, warum dort trotz der Integration in das kapitalistische Weltsystem nichtkapitalistische Verhältnisse fortbestehen.

Ihre Kernthese lautete, dass sich in diesen Gesellschaften die kapitalistische Produktionsweise mit nichtkapitalistischen Produktionsweisen zu je spezifischen Gesellschaftsformen "verflechte" (französisch: articuler). Diese Verflechtung ermögliche die Überausbeutung der Arbeitskraft in der Dritten Welt und einen Extraprofit für die dortigen kapitalistischen Unternehmer, da die nichtkapitalistischen Produktionsweisen die kapitalistische sozusagen subventionieren: die Löhne im kapitalistischen Sektor müssen nicht an den Lebenshaltungskosten (den "Reproduktionskosten der Arbeitskraft") orientiert sein. Sie können darunter liegen, da die Lohnarbeiter einen Teil der zum Überleben notwendigen Güter und Dienstleistungen - etwa Lebensmittel - in Eigenarbeit ("Subsistenzproduktion") herstellen (die klassische, am Beispiel Südafrikas entwickelte Formulierung dieser Sichtweise findet sich in Meillassoux 1976).

Nichtkapitalistische Produktionsformen sind daher nicht, wie in dem Begriff der "Subsistenzlandwirtschaft" suggeriert, unterentwickelte Vorstufen der höher entwickelten Marktwirtschaft (wie aus modernisierungstheoretischer Perspektive behauptet wird) bzw. ein eigener gesellschaftlicher Sektor (wie es aus der Perspektive von Dualismustheorien gesehen wird); sie sind integraler Bestandteil der kapitalistischen Moderne selbst und oft von dieser erst hervorgebracht.

Die Bielefelder erweiterten dies zu der These, dass in jedem Gesellschaftssystem (also auch in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Nordens) die Subsistenzproduktion anderen Produktionsformen vorgelagert ist. "Subsistenzproduktion umfasst", so Evers (1990: 471), "jede Herstellung von Gütern und Dienstleistungen, die nicht für den Markt, sondern für den Eigenkonsum der Produzenten bestimmt ist." Sie ist keine eigene Produktionsweise mit grundsätzlich möglicher unabhängiger Existenzform - so lautete die Kritik an den französischen Kollegen -, sondern eine Produktionsform bzw. ökonomische Teilstruktur, die sich in allen Wirtschaftssystemen findet. Die Intensität der Verflechtung mit anderen Produktionsformen variiert bis hin zu der Extremform der "abhängigen" Subsistenzproduktion, in der alle Inputs über den Markt bezogen werden. Unter dem Einfluss des Kapitalismus geht die Subsistenzproduktion nicht notwendigerweise zurück, vielmehr kann sie sich durch kapitalistische Marktintegration sogar ausdehnen.

In gewisser Hinsicht war dies eine Fortentwicklung der These von Rosa Luxemburg, dass der Kapitalismus für sein Funktionieren ein nichtkapitalistisches Milieu benötige; nach Ansicht der Bielefelder Subsistenztheoretiker (und der Weltsystemtheoretiker um Walllerstein) produziert das kapitalistische Wirtschaftssystem sogar das für sein Funktionieren erforderliche nichtkapitalistische Milieu selbst (siehe etwa die gemeinsame Publikation Smith, Wallerstein & Evers 1984).

Diese theoretische Position (deren Einzelaussagen bei den Bielefeldern zum Teil heftig umstritten waren) erwies sich für die empirische Forschung als außerordentlich produktiv. Sie inspirierte eine Reihe von empirischen Studien von Mitgliedern des Forschungsschwerpunktes (zunächst als Gemeinschaftsarbeit ABE 1979, dann je einzeln: Bennholdt-Thomsen 1982 zu Mexiko, Elwert 1983 zu Benin, Stauth 1983 zu Ägypten, von Werlhof 1985 zu Venezuela) und eine große Zahl von Diplomarbeiten und Dissertationen. Auch Evers’ eigene empirische Arbeiten zu Südostasien, die eher in Aufsatzform erschienen (etwa Evers 1981), sind dieser vergleichenden Perspektive verpflichtet.

Methodisch erlaubte der Verflechtungsansatz, Grundbegriffe, die in der empirischen Wirtschaftsforschung zum Teil bis heute naiv verwendet werden, kritisch, aber produktiv zu hinterfragen.

Im Begriff des Haushalts z. B. verflechten sich Formen der Residenz mit Konsum- und Produktionsweisen und Strukturen der innerhäuslichen Machtverteilung zu vielfältigen Mustern (Evers, Claus & Wong 1984). Die Bielefelder Position erlaubte auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des "informellen Sektors", der damals eine wichtige Rolle in der internationalen entwicklungspolitischen Debatte spielte (Elwert, Evers & Wilkens 1983, Evers 1987). Die Bielefelder zeigten, dass sich hinter dem intuitiv einleuchtenden, aber analytisch unscharfen Begriff des "informellen Sektors" sowohl Prozesse der Peripherisierung von ökonomischen Teilstrukturen als auch Strategien der Überlebenssicherung der ungesicherten Armen verbergen. Der informelle Sektor ist keine defekte Variante "richtiger" (durch Fabrikarbeit bestimmter) kapitalistischer Verhältnisse, sondern eine Funktionsvoraussetzung der kapitalistischen Entwicklung in bestimmten historischen Phasen. So argumentierte Evers, dass das Wachstum des informellen Sektors eine wesentliche Erfolgsbedingung für das südostasiatische Wirtschaftswunder gewesen sei, wichtiger als die Eingliederung Südostasiens in den Weltmarkt.

Da der überwiegende Teil der häuslichen Subsistenzproduktion weltweit von Frauen geleistet wird, knüpfte der Bielefelder Ansatz auch an feministische Perspektiven zum Verhältnis von Weltsystem und Patriarchat an. (Die sich daraus ergebende Debatte zur "Hausfrauisierung" soll ausführlich an anderer Stelle dargestellt werden.) In der spezifischen Bielefelder Verwendung meint der Begriff die Subventionierung der (vorwiegend männlichen) Lohnarbeit durch die (vorwiegend weibliche) Subsistenzarbeit. Heftig umstritten blieb unter den Bielefelder Kollegen allerdings die daraus abgeleitete feministische These der grundsätzlichen Identität der sozialen Positionen von Kleinbauern in den Peripherien und Hausfrauen in den Metropolen vis-à-vis dem kapitalistischen Weltsystem.


Strategische Gruppen

In Bielefeld löste das Thema der "Strategischen Gruppen" das der "Verflechtung" Mitte der 1980er Jahre ab. Dies ging einher mit personellen Verschiebungen am Forschungsschwerpunkt: Führende Köpfe erhielten Rufe auf eigene Professuren, traten mehrjährige Auslandsaufenthalte an oder beendeten aus privaten Gründen ihre wissenschaftliche Karriere. Gudrun Lachenmann und Günther Schlee kamen neu hinzu.

Während also "Strategische Gruppen" als das organisierende Thema (eines Teils) der "zweiten Generation" der Bielefelder Entwicklungssoziologie verstanden werden kann, hatte es bei Evers eine länger zurückreichende Bedeutung. Die ersten Überlegungen finden sich schon in der Dissertation von 1962 (veröffentlicht 1964), die sich mit der Rolle und Wertorientierung der ceylonesischen Industrieunternehmer befasst. Die erste explizite Formulierung des Modells der strategischen Gruppen findet sich in Evers 1973.

Für Evers handelt es sich bei der Analyse strategischer Gruppen um eine lokalisierende und historisierende Variante der marxistischen Klassenanalyse, die vor allem dort greift, wo der Prozess der Entwicklung fester Klassenstrukturen noch nicht abgeschlossen ist (die "fragmentiert" sind), wie z. B. in Südostasien. Obwohl Evers sich deutlich von modernisierungstheoretischen Vorstellungen absetzt, sind Parallelen zum Begriff der "modernisierenden Eliten" unverkennbar.

Strategische Gruppen sind für Evers eine Form von "Proto-Klassen": Gruppen von Akteuren, die gemeinsame "Lebenschancen" bzw., wie es später heißt, "Appropriationschancen" teilen, die also ein gemeinsames Interesse an der Aneignung bestimmter Revenuen haben, die dieses Interesse durch kollektive soziale und politische Aktionen verfolgen, in denen sie ein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessenlage entwickeln, und die von strategischer Bedeutung für die politische Entwicklung ihrer Länder sind. Als Beispiele nennt Evers Beamte, Militärs, Lehrer, die Angehörigen freier Berufe, Geschäftsleute.

Die politische Entwicklung einzelner Länder wird entscheidend bestimmt durch die historische Abfolge, in der diese Gruppen auftreten; diese Abfolge hängt wiederum davon ab, in welcher Reihenfolge im historischen Verlauf neue Revenuen entstehen. Eine erfolgreich agierende strategische Gruppe setzt wesentlich die Bedingungen, unter denen später auftretende strategische Gruppen zu handeln haben. In dieser von Evers vorgeschlagenen historischen Sequenzanalyse ergeben sich deutliche Parallelen zu Barrington Moore (1969). Mit dem Modell der strategischen Gruppen lassen sich also spezifische nationale Entwicklungswege vergleichen.


III. Wirkung
Verflechtung und strategische Gruppen

Die Bedeutung der Arbeiten von lebenden und unverändert produktiven Wissenschaftlern einzuschätzen, ist schwierig. Festzuhalten bleibt, dass das Thema der Verflechtung von Subsistenz- und Warenproduktion jahrelang die deutsche entwicklungstheoretische Debatte bestimmte. Kritiker wiesen natürlich bald auch auf die Grenzen des Ansatzes hin. Wegen seiner ökonomistischen Orientierung konnte er nur schwer in die Debatten um den "peripheren" Staat eingebracht werden; er antwortete nicht auf das neu entstehende Interesse an Kultur (das der Ethnologie seit den 1970er Jahren einen massiven Zulauf von Studenten brachte); er stand quer zu den sich durchsetzenden "akteurszentrierten" Forschungsansätzen.

Dass der Ansatz schließlich "auslief", lag allerdings einfach an seinem Erfolg. Zusammen mit seinem älteren französischen Vorbild hat der Bielefelder Verflechtungsansatz Erkenntnisse produziert, hinter die heute nicht mehr zurückgegangen werden kann. Ältere Vorstellungen von einer "dualen" Wirtschaft oder Gesellschaft oder von der Modernisierung als gerichteter Bewegung von der Tradi-tion zur Moderne sind damit endgültig hinfällig. Damit gehört der Bielefelder Verflechtungsansatz heute zum Kanon der Theorierichtungen, die in jeder Einführungsveranstaltung zur Entwicklungstheorie oder Wirtschaftsethnologie mit Notwendigkeit zu behandeln sind.

Auch auf empirischer Ebene bleiben die Bielefelder Verflechtungsstudien für aktuelle entwicklungspolitische Debatten, etwa zum neuen Paradigma der Armutsbekämpfung, von größter Relevanz. Darüber hinaus lassen sie sich auch als Vorgriff auf aktuelle Entwicklungen in den entwickelten Industrienationen lesen, die heute unter Begriffen wie "Zukunft der Arbeit" diskutiert werden.

Weniger eindeutig fällt das Urteil zur Bedeutung des "Strategische-Gruppen"-Ansatzes aus. Im Diskussionsrahmen der Bielefelder Entwicklungssoziologie war er ein Versuch, sich mit dem Staat der Dritten Welt (der im Verflechtungsansatz eine deutliche Leerstelle darstellt) systematisch auseinanderzusetzen. In größerem Umfang übernommen wurde er in erster Linie in der Südostasienforschung: in empirischen Arbeiten von Evers selbst, von Kollegen (vor allem Evers & Schiel 1988), von Schülern, die unter dieser Perspektive verschiedene Gruppen in verschiedenen Ländern Südostasiens erforschten (etwa das thailändische Offizierskorps, die Arbeiterbewegung in Thailand, Geldverleiher in Südindien, Bürokraten in Indonesien und Thailand, etc.). Politikwissenschaftler um Rainer Tetzlaff in Hamburg erweiterten den Ansatz um die Kategorie der "konfliktfähigen Gruppen", womit Gegeneliten gemeint sind, die sich den herrschenden ("strategischen") Gruppen erfolgreich entgegenstellen (Schubert et al. 1994; auch hier die empirischen Beispiele in erster Linie aus Südostasien).

Zugleich lässt sich gegen den Ansatz auch grundsätzliche Kritik geltend machen. Er enthält erstens eine nicht aufgelöste Ambivalenz zwischen einer Struktur- und einer Handlungsanalyse, zwischen (in Abwandlung einer Marxschen Formulierung) einem Begriff von "Gruppen an sich" und "Gruppen für sich". Der Begriff verweist in erster Linie auf Gruppen "für sich", d. h. Gruppen, die Prozeduren der internen Abstimmung haben und (bewusst) als Kollektiv handeln (sonst würde der Begriff der Strategie keinen Sinn machen). Bei der konkreten Anwendung des Modells rekurrieren Evers und andere allerdings eher auf Gruppen "an sich", die durch objektive gemeinsame Merkmale konstituiert werden und sich einer Gruppenidentität nicht unbedingt bewusst sind.

Zweitens provoziert der Begriff die Frage, ob es auch "nichtstrategische" Gruppen geben kann und wie diese in das Modell einzubauen wären. In der Formulierung des Modells wird zwar gelegentlich betont, dass sich die gemeinsamen Appropriationschancen nicht nur auf materielle Güter beziehen, sondern auch auf Macht, Prestige, Wissen, "religiöse Ziele", etc. (also auch auf politisches, kulturelles und symbolisches Kapital), doch werden in der empirischen Anwendung in erster Linie Beispiele der Aneignung von ökonomischem und politischem Kapital gegeben. Wie dem Verflechtungsansatz ist also auch dem "Strategische-Gruppen"-Ansatz ein gewisser (polit-)ökonomischer Bias nicht abzusprechen.

Außerhalb der Südostasienforschung rezipiert - und modifiziert - wurde der Ansatz in erster Linie in einer akteurszentrierten Soziologie der Entwicklungspolitik, u. a. von Schülern von Evers selbst, aber auch von französischen Ethnologen (vgl. Bierschenk & Olivier de Sardan 1997, dort weitere Literatur). In diesen Ansätzen wird der Begriff der strategischen Gruppen auf die Ebene der Interaktion konkreter sozialer Akteure, etwa im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojektes, bezogen. Er postuliert, dass in einem gegebenen Kontext die einzelnen Akteure weder die gleichen Interessen noch die gleichen Vorstellungen haben und dass, je nach "Problem", ihre individuellen Interessen sich je unterschiedlich, aber nicht auf beliebige Weise, aggregieren.

Parallel zur Entwicklungssoziologie wurde schließlich auch in der Managementtheorie ein Begriff der strategischen Gruppen entwickelt, ohne dass beide Diskussionen lange Zeit voneinander Notiz genommen hätten. In einer jüngeren Arbeit hat Evers (1999) versucht, beide Debatten zu einer Diskussion "global handelnder strategischer Gruppen" zusammenzuführen.


Ein distinkter Stil
der Wissenschaftsorganisation

Möglicherweise liegt allerdings die langfristig größte Wirkung von Evers weniger im Bereich der Theoriebildung als in einer spezifischen Form der Wissenschaftsorganisation, die stilbildend wirkte. Das Programm der Bielefelder Entwicklungssoziologie beruhte (nach der Emeritierung Evers’ ist die Zukunft offen) auf einer Verbindung von entwicklungstheoretischem Anspruch mit intensiver vergleichender empirischer Forschung. Man kann darin unschwer eine Fortführung von Evers’ Freiburger Erfahrungen im "Arbeitskreis für kulturwissenschaftliche Forschung" (dem heutigen Arnold-Bergstraesser-Institut) erkennen. Im Ergebnis führt das zu einer starken Annäherung von Entwicklungssoziologie und Ethnologie (die von der deutschen Ethnologie, anders als der französischen, lange Zeit eher als Bedrohung denn als Chance verstanden wurde); während die Soziologie eher die Fragestellungen liefert, kommen die Forschungsmethoden eher aus der Ethnologie. Die Einrichtung einer von der Volkswagen-Stiftung finanzierten Professur für Sozialanthropologie in Bielefeld 1989 war die logische Konsequenz dieses Ansatzes.

In den 1970er und frühen 1980er Jahren waren die entwicklungspolitischen Debatten sehr stark von marxistischen Prämissen geprägt. Dies barg häufig die Gefahr, theoretische Positionen allzu schnell zu verallgemeinern und dogmatisch zu verhärten. Die Bielefelder Orientierung am Filter der Empirie, den jede theoretische Aussage zu durchlaufen hatte, und die Bereitschaft, Anregungen aus vielen anderen Bereichen aufzunehmen, stellte hier eine sehr wirksame Kontrollinstanz dar. Theoretisch erarbeitete Positionen wurden bei widersprechenden empirischen Evidenzen denn auch immer wieder aufgegeben (s. etwa Evers 1997a).

Die Teamorientierung drückte sich in der auffällig hohen Zahl von gemeinsamen Publikationen aus, zum Teil auch in Publikationen mit kollektivem Etikett ("Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologien", "Projektgruppe Westafrika"), hinter dem einzelne Autoren zurücktraten. Im übrigen wird die Darstellung der Bielefelder Ansätze dadurch erleichtert, dass es mehrere von Evers verantwortete, gleichsam autoritative Zusammenfassungen und auch Richtigstellungen gegenüber Kritik gibt (z. B. Evers 1987a, 1987b, 1990 zum Verflechtungsansatz, Evers 1997b zum "Strategische-Gruppen"-Ansatz).

Zum Bielefelder Stil gehörte last not least der explizite - und erfolgreiche - Versuch, sich vor allem auch international zu positionieren. Dies bedingte eine Publikationspolitik, in der großes Gewicht auf die Veröffentlichung in international und regional bedeutsamen Wissenschaftssprachen gelegt wurde. Unter der Federführung von Evers war Bielefeld nicht nur eine der bedeutenden Stimmen in der deutschen Entwicklungsforschung, sondern vor allem auch ein international anerkanntes centre of excellence.


Schriften von Hans-Dieter Evers

- 1964: Kulturwandel in Ceylon. Eine Untersuchung über die Entstehung einer Industrieunternehmerschicht. Baden Baden, Lutzeyer
- 1969: Loosely Structured Social Systems - Thailand in Comparative Perspective. New Haven, Yale University
- 1973a: Modernisation in South East Asia. London, Oxford University Press
- 1973b: Group Conflict and Class Formation in South East Asia, in Evers 1973a: 108-131
- 1979: Arbeitsgemeinschaft Bielefelder Entwicklungssoziologen (ABE) 1979: Subsistenzproduktion und Akkumulation. Saarbrücken, Breitenbach
- 1980 (ed.): Sociology of South East Asia. London, Oxford University Press
- 1983, mit G. Elwert und W. Wilkens: Die Suche nach Sicherheit. Produktionsformen im sogenannten informellen Sektor, in: Zeitschrift für Soziologie 12: 281-296
- 1984, mit W. Clauss, W. & D. Wong: Subsistence Production, in: Smith et al. 1984, 23-36
- 1984, mit J. Smith und I. & H. Wallerstein (eds.): Households and the World Economy. Beverly Hills & London, Sage
- 1987a: Schattenwirtschaft, Subsistenzproduktion und informeller Sektor. Wirtschaftliches Handeln jenseits von Markt und Staat, in: K. Heinemann (Hg.) 1987: Soziologie des wirtschaftlichen Handelns. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 28, 353-366
- 1987b: Subsistenzproduktion, Markt und Staat. Der sog. Bielefelder Verflechtungsansatz, in: Geographische Rundschau 39: 136-140
- 1988, mit Tilman Schiel: Strategische Gruppen. Vergleichende Studien zur Staatsbürokratie und Klassenbildung in der Dritten Welt. Berlin, Reimer
- 1990: Subsistenzproduktion und Hausarbeit - Anmerkungen zu einer Kritik des sog. Bielefelder Ansatzes, in: Zeitschrift für Soziologie 19: 471-473
- 1997a: Aufstieg und Fall des informellen Sektors. Indonesien im Vergleich, in: Komlosy, A. et al. (Hg.): Ungeregelt und unbezahlt. Der informelle Sektor in der Weltwirtschaft. Frankfurt, Brandes & Apsel
- 1997b: Macht und Einfluß in der Entwicklungspolitik. Neue Ansätze zur Theorie strategischer Gruppen, in: E+Z 38, H. 1: 15-17
- 1999: Globale Macht: Zur Theorie strategischer Gruppen (Arbeitspapiere des Forschungsschwerpunktes Entwicklungssoziologie der Unversität Bielefeld, 322)
- 2000, mit R. Korff: South East Asian Urbanism. Hamburg & Münster, LIT

Weiterführende Literatur

- Bierschenk, T. und J.-P. Olivier de Sardan (1997): ECRIS: Rapid Collective Inquiry for the Identification of Conflicts and Strategic Groups, in: Human Organization 56: 238-244
- Meillassoux, Claude (1976): Die wilden Früchte der Frau. Frankfurt, Syndikat
- Moore, Barrington (1969): Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Frankfurt, Suhrkamp
- Schubert, G.; Tetzlaff, R.; Vennewald, W. (Hg., 1994): Demokratisierung und politischer Wandel. Theorie und Anwendung des Konzeptes der strategischen und konfliktfähigen Gruppen (SKOG). Hamburg & Münster, LIT




Dr. Thomas Bierschenk hat 1983 bei Georg Stauth und Hans-Dieter Evers in Bielefeld promoviert und war von 1985 bis 1991 Hochschulassistent bei Georg Elwert am Institut für Ethnologie der FU Berlin. Er war von 1991 bis 1994 Gastprofessor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Marseille, von 1994 bis 1997 Professor für Ländliche Soziologie der Entwicklungsländer an der Universität Hohenheim und ist seitdem Professor für Kulturen und Gesellschaften Afrikas am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Universität Mainz.
biersche@mail.uni-mainz.de

Der Autor dankt Carola Lentz und Georg Stauth für die kritische Durchsicht einer ersten Fassung dieses Textes.

Eine längere Version des Textes erscheint als Arbeitspapier des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der Universität Mainz:
www.uni-mainz.de/~ifeas/workingpapers/arbeitspapiere.html