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Revolution und Gegenrevolution
Wenn ich hier den revolutionären Prozess des Jahres 1917 und die vom
„Roten Oktober“ ausgehende Gegenrevolution nachzeichne, dann ist
zunächst eine Vorbemerkung zu den Veränderungen ihrer Rezeption und
Geschichtsschreibung am Platz. Bis zur Öffnung der Archive unter
„Glasnost“ wurde die geschichtliche Wirklichkeit unter einem dichten
Mythenteppich verborgen gehalten. Er war aus den geschichtspolitischen
Werkstätten der Sowjetunion, vor allem unter dem Diktat der Ende der
30er Jahre von Stalin verordneten offiziellen Darstellungen gewebt und
über ML-orientierte Geschichtspflege und Propaganda in alle Länder
getragen worden. Mit der Öffnung der Archive wurde eine Fülle von
Material erschlossen, das den Mythenteppich allmählich auflösen half.
Das gilt besonders für die von 1918 bis 1922 gegen die revolutionären
Bäuer*innen und Arbeiter*innen entfesselte Gewalt.
Revolution
Die Revolution des Jahres 1917 vollzog sich wesentlich in drei
Strängen. In der Revolution der Bäuer*innen im Frühjahr und Herbst, in
der damit korrespondierend verlaufenden Machtübernahme in der
Produktion durch die Fabrikkomitees (auch „Räte“ genannt) und
schließlich durch die Soldatenräte in der Armee. An allen waren auch
bolschewistische Arbeiter*innen beteiligt, sie wurden aber nicht von
ihnen bestimmt. Die revolutionäre Explosion des Jahres 1917 wurde von
den Textilarbeiterinnen des Petersburger Wyborg-Bezirks gezündet, die
die Kämpfe der vergangenen Jahre gegen die zaristische Ernährungs- und
Inflationierungspolitik in einen revolutionären Impuls übersetzten. Sie
zogen männliche Arbeiter, manchmal mit Mühe, in die binnen Wochen
erstarkende Streikbewegung hinein und setzten die Februarrevolution in
Gang, an deren Ende die Abdankung des Zaren am 3. März stand. Die
Bolschewiki waren davon überrascht worden und zogen, von Lenin aus der
Schweiz angestachelt, nach. Von hier aus radikalisierte sich der
revolutionäre Prozess schubweise auf dem Land, in den Fabriken und in
der Armee. Auf dem Land überführten die Bäuer*innen die Gutshöfe
(einige brannten sie ab) in die kollektive Verfügung der
Dorfgemeinschaften und übernahmen die Verwaltungszentren. An der
Bauerrevolution war bemerkenswert nicht nur die Übernahme der Gutshöfe,
sondern die Selbstorganisation in der Herstellung einer eigenen lokalen
Verwaltung. Der lokale Staatsapparat brach zusammen, in demokratischen
Verfahren wurden Bauernkomitees gewählt, die eigenes Dorfrecht
schufen.. Sie verwandelten einen großen Teil der Gutshöfe in Schulen,
in denen sie von ihnen bezahlte Lehrer*innen einstellten, weil sie
Bildung sehr wichtig nahmen. Und sie begannen sogar, übergreifende
Strukturen zunächst auf Regionalebene herzustellen. Sie wurden bei
alldem bestimmt von den Vorstellungen der sogenannten „moralischen
Ökonomie“, entwickelt über Jahrhunderte in den Kämpfen gegen die meist
adeligen Grundeigentümer. Tragend war eine egalitäre,
eigentumsfeindliche Einstellung, die auch die Versorgung der armen und
notleidenden Mitbewohner*innen einschloss. Die unter Stolypin vor dem
Krieg gebildeten und aus der Dorfgemeinschaft ausgescherten
Kulakenwirtschaften wurden aufgelöst und ins Dorfkollektiv
zurückgenommen. Bauernselige Romantiker aus der Ecke der
Narodniki und von sozialrassistischer Verachtung gegen die „dunklen,
rückständigen Massen“ bestimmte Marxisten (wie etwa Plechanow:
„Lasttiere“) verfehlten in ihren Beurteilungen die Herkunft der
bäuerlichen Einstellungen aus den Kämpfen der vergangenen Jahrhunderte
in schöner komplementärer Übereinkunft. Im Oktober war die
gesellschaftliche Basis des russischen Staats verschwunden und Lenin
trieb aus seinem Versteck in Finnland die Genossen an, die Revolution
auf dem Land endlich zur Kenntnis zu nehmen. Nicht ohne Grund, denn es
war der bei weitem wichtigste Strang der Revolution. Schließlich lebten
80% der Bevölkerung auf dem Land. Die Verhältnisse, die diese
Revolution schuf, waren nunmehr herrschende Verhältnisse, legitimiert
in neuen revolutionären Rechtsformen. Die Revolution korrespondierte
sogar direkt mit der von Zapata angeführten mexikanischen Revolution,
in deren Tradition noch heute die von Chiapas ausgehenden Bewegungen
stehen.
Die Fabrikkomitees hatten eine lange Tradition, die bis zur Revolution
1905 und darüber hinaus zurückreichte. Gewählt von der gesamten
Arbeiter*innenschaft übernahmen sie die Kontrolle selbst oder
organisierten ein unüberwindliches Gegengewicht gegen die Eigentümer
bzw. das Management. Sie betrieben vor allem die Abschaffung des
verhassten Stücklohns, mit Marx Signum der kapitalistischen Produktion
und Vorreiter und Begleitstrategie des weltweiten
tayloristisch/fordistischen Angriffs auf die Klassenautonomie. Die
Auseinandersetzungen zwischen bolschewistischen, menschewistischen,
sozialrevolutionären und anarchistischen Theorie- und
Strategiepositionen spielten hier keine Rolle. Geprägt wurden sie
in ihren egalitären Einstellungen vor allem von den
Bauernarbeiter*innen, den neu aus dem Dorf eingezogenen Arbeitskräften,
als dem radikalsten Element des revolutionären Prozesses in den
Fabriken.
In der Armee beseitigten parallel dazu gewählte Komitees als „Organe
der Selbstorganisation der Soldaten“ die verhassten Strukturen der
zaristischen Autokratie. Die Diskussion an der Basis favorisierte vor
allem Guerilla- und Milizvorstellungen und verlief analog zu der
Bildung von Milizen und roten Garden in der Fabrik. Auch hier waren die
Bolschewiki keine bestimmende Kraft. Alle drei Stränge waren Ausdruck
revolutionärer Selbstorganisation von unten. Allerdings gelang es den
Bolschewiki, sich in den Auseinandersetzungen mit der provisorischen
Regierung durch radikale Forderungen und Parolen in den Vordergrund zu
spielen und Mitglieder zu gewinnen.
Die sogenannte „Oktoberrevolution“ war dem gegenüber ein
verhältnismäßig unauffälliger Vorgang der Besetzung von Institutionen
staatlicher Macht, ganz im Gegensatz zu der Jubel- und
Heldenberichterstattung aus dem Mythenteppich. Er fand weitgehend
unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle statt. Das Nachtleben,
auch das der besseren Kreise, verlief bis in die frühen Morgenstunden
des nächsten Tages weitgehend unbehelligt, selbst in unmittelbarer
Umgebung der Stätten und Newabrücken, die die bolschewistischen
Geschichtslegenden zu Orten eines dramatischen Kampfgeschehens machen.
Relativ geräuschlos besetzten bolschewistische Arbeiter und Soldaten
Bahnhöfe, Post, Telegrafenamt und weitere Knotenpunkte der Verwaltung.
Auch die Übernahme des Winterpalais war wenig spektakulär. Der Leiter
der provisorischen Regierung Kerenski fuhr weg, seine Soldaten
verdrückten sich und seine Minister verharrten in unfroher
Unsicherheit. „Kalifen für eine Stunde“ spottete die Presse. Aber der
Spott sollte ihr in der Kehle stecken bleiben. Das Oktobermanöver war
nur der Auftakt zu einer Offensive bolschewistischer Machtformierung.
Ihr Erfolg beruhte darauf, dass sie die Gewaltressourcen und Zwänge des
Bürgerkriegs mobilisieren konnte. Denn der Bürgerkrieg war das Medium,
in dem die Bolschewiki ein unerschöpfliches Reservoir von
-Gewaltmitteln zur Gestaltung neuer Machtverhältnisse entfesselten,
unter Überschreitung von moralischen Barrieren und in mörderische/
Dimensionen hinein, die auch unter dem Zaren nicht durchbrochen bzw.
erschlossen waren. In allen sozialen Bereichen der Revolution von unten
fingen die Bolschewiki (nur über kurze Zeit im Verein mit den linken
Sozialrevolutionären) zunächst die revolutionären Impulse durch
rechtliche Zugeständnisse hinhaltend ab, um dann im Verlauf der
Frühjahrsmonate des Jahres 1918 zu terroristischen Formen der
Gegenrevolution von oben überzugehen.
Gegenrevolution
Lenin, der sich durch seine strategische Begabung und Redekunst immer
mehr zum informellen Führer der Machtebene profiliert hatte und seit
dem Attentat auf ihn im Sommer 1918 zur regelrechten Ikone
hochstilisiert wurde, wurde mit anderen Kadern des Parteiapparats von
Vorstellungen einer kriegsökonomischen Transformationspolitik geleitet.
Sie griffen die Impulse aus der deutschen Kriegsökonomie auf -das waren
zugleich die Impulse aus der russischen Kriegsökonomie, die ja
ihrerseits seit 1914/15 deren Strategien aufgenommen hatte- und
übersetzten sie in einen gewaltigen Prozess der Erneuerung Russlands
mit Aspirationen globaler Ausstrahlung. Spätere Führungspersonen des
Apparats, wie der als ZK-Mitglied hochrangige Altbolschewik Krassin
(vor dem Krieg leitender Ingenieur bei Siemens, im Krieg auf höchster
Bank.Ebene Mitglied der zaristischen Kriegsökonomie, jetzt
bolschewistischer Außenminister), Groman (zaristische
Ernährungsdiktatur, blieb in der bolschewistischen
Requisitionspolitik), Kriszanowski hatten herausragende Positionen in
der zaristischen Kriegsökonomie gehabt. „Lerne beim Deutschen“ war
Lenins ständige propagandistische Mahnung. Was beim Deutschen lernen?
Dies hier: die in der deutschen Kriegsökonomie exemplarisch verfolgte
Verbindung einer Offensive tayloristisch/fordistischer –also
kapitalistischer- Rationalisierung mit der Effektivierung und
Vergesellschaftung des militärisch/ökonomisch/politischen Kommandos.
Taylorismus hieß in Taylors eigenen Worten „Krieg“ („war“) gegen den
proletarischen Eigenwillen im Produktionsprozess und den Lebensformen.
Lenins Ziel: „alle beteiligten Werktätigen zu einem einzigen
wirtschaftlichen Organ zusammen zu fassen, das mit der Genauigkeit
eines Uhrwerks arbeitet“, unter dem Kommando des „einheitlichen Willens
der Leiter des Arbeitsprozesses“ und bei der Übernahme der deutschen
Methoden „keine diktatorischen Mühen zu scheuen“. Wie sehr dies mit
terroristischen Methoden des sozialen Zugriffs verbunden werden sollte
und wie sehr das zunächst zurückhaltende Eingehen auf den
revolutionären Prozess nur taktischer Natur war, ergibt sich schon
daraus, dass bereits im Dezember 1917 die „Tscheka“ gegründet und als
Terrorinstrument in die Durchsetzung des Transformationsprojekts
eingebunden wurde.
Das gilt auch für den Rückstau der Revolution der Bäuer*innen. In der
Gesetzgebung der ersten Monate des Jahres 1918 wurden viele Ergebnisse
der Revolution durch Rechtsform anerkannt, legalisiert, verrechtlicht.
Auch das war schon der Versuch der staatlichen Usurpation und
Enteignung des revolutionären Prozesses. Aber die Bäuer*innen, über 80
% des revolutionären „Potentials“, wurden nicht etwa -ihrem sozialen
Gewicht entsprechend- vorrangig oder auch nur gleichberechtigt in die
Umwandlung Russlands eingeladen. Ganz im Gegenteil. Schon in den ersten
Januarwochen wurde ohne Not der Raubkrieg gegen die Dörfer mit der
Bildung von bewaffneten „Requisitionseinheiten“ zur Aufbringung des
Getreides eingeleitet. Der nächste Schritt war die Bildung einer
„Nahrungsmitteldiktatur“ im „Narkomprod“ im Mai 1918, die eigentliche
offizielle „Kriegserklärung“ gegen die Bäuer*innen. Obwohl diese in der
Revolution selbst schon die Kulakenwirtschaften beseitigt hatten, wurde
diese Politik von Lenin zur Legitimation des Raubs durchtränkt mit
eliminatorischer Propaganda gegen diese „Spinnen, Blutegel,
Blutsauger.“ „…Lasst uns diese blutsaugenden Kulaken ersticken und
erwürgen“. Nun gab es jedoch keine mehr. Also zielte das auf die
Bäuer*innen selbst. Darin lag eine Dehumanisierung, die Stalins Politik
des Jahres 1931 vorwegnehmen sollte, die von der neuen Genozidforschung
als „Völkermord“ eingeschätzt wird. Aber das nutzte nichts. Auch nicht
der Versuch, die „armen Bauern“ in einem „Kreuzzug“ gegen das
revolutionäre Dorf in Stellung zu bringen – die in Jahrhunderten
gewachsene Solidarität war nicht so leicht zu zertrümmern. Versucht
wurde es dann im „Bürgerkrieg“. Der Widerstand gegen die auf
Zigtausende angewachsene Requisitionsarmee wurde mit „rotem Terror“
bekämpft: Erschießungen, Liquidierungen ganzer Dörfer, Geiselnahmen,
Deportation in neuerrichteten Konzentrationslagern waren die Methoden.
Und die auch Folterpraktiken der Tscheka, die nichts ausließen:
Handschuhmethode (Hände in kochendes Wasser und dann die Haut
abziehen), Übergießen mit Wasser und Vereisung in der Winterkälte, oder
das Zwängen in ein Fass mit Ratten unten drin, die sich auf dem Feuer
durch den Körper durchfraßen. Das alles mit Billigung Lenins und des
ZK, die wöchentlich von Tschekaführer Latsis informiert wurden. Die
Bäuer*innen hatten im Bürgerkrieg eine schwierige Position. Sie standen
gegen die „weißen“ Armeen auf der Seite der Bolschewiki und rückten
sogar in die Rote Armee ein, wenn die „Weißen“ auf der Siegerstraße
waren. Bei bolschewistischem Übergewicht stellten sie das ein und
wehrten sich gegen den Getreideraub. Als die „Weißen“ 1921 besiegt
waren, zeigten die Bolschewiki, worum es ihnen ging. Statt den Krieg
einzustellen, ging es gegen die Bäuer*innen erst richtig los. Eine
Phase gnadenloser Offensiven im Krieg nach innen gegen die Dörfer
begann mit hunderttausenden Toten und Tschekaopfern. Die
Konzentrationslager schwollen an und der Hunger in den Dörfern aufgrund
der Requisitionsüberfälle forderte Todesopfer in steigendem Ausmaß. Die
Kriegführung gegen die dagegen gerichtete Aufstandsbewegung eskalierte
im Sommer 1921, als der gewendete zaristische Offizier Tuchatschewski
mit dem nunmehr freigesetzten Potential an Maschinengewehren, schweren
Waffen und Flugzeugen eine Gewalt eskalierte, der die Bauernverbände
letztlich wenig entgegenzusetzen hatten. Tuchatschewski ging
schließlich sogar zum Einsatz von Giftgas über, um die Bauern aus den
Wäldern ins Offene zu treiben, praktisch ins Maschinengewehrfeuer
hinein. Dennoch kämpften diese verzweifelt und die Auseinandersetzungen
endeten nach einer Hungersnot mit entsetzlichen Erscheinungen, die
diejenigen des Hungermords im Jahre 1932 vorwegnahmen, kurz vor einer
Niederlage der Roten Armee im Patt, das dann von der „neuen
ökonomischen Politik“ (NEP) abgefangen wurde.
Auch der Krieg mit der Arbeiterklasse eskalierte bald. Schon Anfang
1918 setzte das Regime den revolutionären Arbeiter*innen die Rückkehr
zu strikten Hierarchien unter dem Management des einzelnen
Betriebsleiters entgegen. Die Rückkehr zum kapitalistischen Stücklohn
wurde angeordnet und im Kampf gegen egalitäre Neigungen der
Arbeiter*innen um eine Lohnhierarchie auf 17 Lohnstufen und eine
entsprechende hungerpolitische Differenzierung der
Nahrungsmittelrationen ergänzt. Die Streikbewegungen wurden mit
einem breiten Spektrum kapitalistischer Maßnahmen bekämpft:
Betriebsschließungen, Ausschluss von der Nahrungsmittelversorgung,
Kündigungen bis hin zum Gewalteinsatz der Tscheka. Eine
Protestdemonstration in Nishnij-Nowgorod wurde sogar mit dem Einsatz
von Maschinengewehren bekämpft. Besonderen Widerwillen der
Arbeiter*innen erregte der Habitus der neuen Eliten mit ihren sorglos
zur Schau getragenen Konsum- und Statusprivilegien. Die Wut darüber
fand regelmäßig Eingang in die Parolen der Streikenden und in die
direkten Auseinandersetzungen mit den im Auto nebst Chauffeur
angereisten Kader. „Pelzmantel runter!“ riefen die frierenden und
hungernden Malocher angesichts derartiger Zumutungen. Die Kommissare
fanden nichts dabei. Sie hatten sich die schärfsten Villen in und um
Moskau gesichert -Lenin machte da keine Ausnahme- und wurden in den
besten Restaurants bedient. Trotz Übergang zur Militarisierung der
Produktion nahmen die Arbeiter*innenkämpfe schon in den letzten Monaten
des Jahres 1920 und dann massiv im Frühjahr 1921 zu, vor allem in
Moskau und St. Petersburg. Der Aufstand der Seeleute, Soldaten und
Arbeiter*innen in Kronstadt war nur ein abschließender Höhepunkt,
allerdings einer mit großer Symbolkraft. Er wurde durch das Massaker
unter Trotzki liquidiert –wegen der Sympathisanten der Aufständischen
in der Roten Armee mit regierungstreuen Spezialkräften. Das Ergebnis
für das Verhältnis zwischen der Klasse und ihren selbsternannten
Diktatoren: der Graben zwischen dem gros der Arbeiter*innen und ihren
neuen Herren war unüberwindlich geworden. Die Partei war nur noch dem
Namen nach „proletarisch“, urteilt Sheila Fitzpatrick, eine neutrale
und distanzierte Forscherin von großem internationalem Renommee. Eine
Partei ohne soziale Unterstützung, die „Avantgarde einer nicht
existierenden Klasse“.
Das „roll-back“ gegen die revolutionären Soldaten war nicht weniger
markant und sei hier kurz umrissen: die demokratischen Errungenschaften
und die Orientierung an Guerillavorstellungen wurden schon im März
zurückgenommen, synchronisiert mit den anderen oben skizzierten
bolschewistischen Offensiven. Sofort wurde eingeleitet, was Trotzki in
einem Prawda-Interview die „Neugründung“ der alten Streitkräfte nannte.
In der Tat: die Aufnahme der zaristischen Offiziere in die rote Armee
wurde gegen den erbitterten Widerstand der revolutionären Soldaten
unter der Deckvokabel „Militärspezialisten“ durchgesetzt. Ihre Zahl
schwoll stetig aber dramatisch während des Bürgerkriegs auf etwa 75 000
an. Und das hieß: 82% aller Kommandeure, 83% des Generalstabs, 90% der
Divisionskommaneure waren schließlich alte Zaristen. Ihre
Militärhandbücher wurden übernommen, vor allem zu Fragen der
Disziplinierung. Die russische Renationalisierung brachte sich so im
Vorgriff auf Stalins 1932 eingeleitete offene Renationalisierung zum
Tragen. Klammheimlich erst mal, aber sehr zur Befriedigung der höchsten
zaristischen Generalität. Wenn Tuchatschewski zum Gaseinsatz griff,
dann war dies der Hintergrund. Auch den Gaskrieg hatten sie von den
Deutschen gelernt. Die beabsichtigte Parallelität in der Reorganisation
von Betrieb und Armee war nur der Ausdruck der Herstellung eines
militärisch-industriellen Komplexes, wie er auch in anderen
kapitalistischen Ländern zu beobachten war und seinem Höhepunkt in der
Synchronisierung von Produktion und Militär unter dem zweiten
Fünf-Jahresplan zustrebte.
Die Kämpfe mit den Bäuer*innen und der Arbeiter*innen dauerten in den
nächsten Jahrzehnten fort. Ich kann sie hier nicht behandeln. Sie waren
allerdings der Hauptgrund, warum es im sowjetischen Russland nie zu
einem planstaatlichen Kommando über Produktion und Gesellschaft kommen
konnte. Noch im Jahre 1931 musste der Architekt stalinistischer
Industrialisierungspolitik Ordschonikidse eingestehen, dass weder
Vesenka (Planungsbehörde) noch Rabkrin (Arbeiter- und Bauerninspektion)
eine Ahnung davon hatten, was im Produktionsprozess, auf dem
„shop-floor“ überhaupt passierte. Jede Totalitarismusvorstellung bzw.
–ideologie muss vor allem daran scheitern. Die SU war nie ein
Planstaat. Planen konnte die Führung nur die „innere“ Kriegführung
gegen die Bäuer*innen und die Arbeiter*innenklasse. Aber das galt ja
auch für die anderen kapitalistischen Länder. Was denn anderes waren
die sowjetischen Strategien als kapitalistisch? Sie trieben die
tayloristische Rationalisierung voran, betrieben Mehrwertabpressung
unter Einsatz von Stücklohn und mit radikalem Lohngefälle,
Geldwirtschaft etc. Wegen der großen sozialen Widerstände war
allerdings die Formierung staatlicher Gewalt besonders stark
ausgeprägt, eine extreme Erscheinung im Konzert der kapitalistischen
Mächte. Nach allem stellte der durch den „Roten Oktober“ eingeleitete
Prozess nur einen Strang im Gesamtspektrum der globalen
fordistisch/tayloristischen Offensive auf dem kapitalistischen Weg in
eine Gesellschaft von Massenproduktion und –konsum dar.
Was das bedeutet, darüber möchte ich heute mit Euch diskutieren. Ich
begreife diese Skizze und unseren Workshop hier in Erfurt als Auftakt
zu einem „work in progress“ den wir, d.h. die „Materialien für einen
neuen Antiimperialismus“, ab Beginn des nächsten Jahres auf unserer
neuen Homepage voranbringen wollen, ebenso wie mit der Publikation
einer umfassenden Arbeit im nächsten Frühjahr, der sie entnommen ist.1
Detlef Hartmann
Einleitender Vortrag für eine Diskussion über die russische
Revolution des Jahres 1917, der am 26.11.2016 im Rahmen einer Reihe von
Seminaren über die Oktoberrevolution vom Bildungskollektiv BiKo in
Erfurt.
Das Seminar am 26.11.2016 begann mit einer Darstellung von Stephan
Stracke über seine soeben in der Ukraine gemachten Erfahrungen,
namentlich mit der Erinnerungskultur zum „Holodomor“ des Jahres 1932
bis 1934 in der Ukraine. Daran anschließend wurde der Vortrag über
„Revolution und Gegenrevolution“ quasi als Rahmen dieser Darstellungen
gehalten, der in den obigen schriftlichen Ausführungen zusammengefasst
und anschließend in den Räumen der Veranstalter*innen ausgelegt wurde.
Die Diskussion war breit und bemerkenswert vorurteilslos. Zunächst
wurden die Erfahrungen in der Ukraine beleuchtet, mit einem Akzent auf
die Frage, ob denn ein raumorientiertes Geschehen so einfach
dargestellt werden könne und nicht eines historisch-materialistischen
Verständnisrahmens bedürfte. Zur Raumorientierung wurden die Arbeiten
von Snyder berührt, insbesondere „Bloodlands“. Im Aufgriff der
historisch-materialistischen Rahmenbedingungen der zunächst
leninistischen, dann unter Stalin weitergeführten Gegenrevolution nahm
die Erörterung des technologischen Angriffs der
fordistisch/tayloristischen Innovationsoffensive breiten Raum ein. Dies
galt vor allem für die Frage, wie ein solcher Angriff zu derart
mörderischen Folgen führen könne, wie unter Lenin und Stalin. Eine
besondere Erörterung galt auch der Frage, wie die Bolschewiki vom roten
Oktober an einen derart rapiden Transformationsprozess durchlaufen
könnten, wie ihn sogar der relativ Bolschewiki-treue Rabinowitch
in seinen beiden Büchern beschrieben hat. Sebastian,
Mitorganisator und Leiter der Veranstaltung, stellte dann die wohl
wichtigste Frage nach dem Fortbestand der „moralischen Ökonomie“. Hier
im Norden sei davon nichts zu spüren. Was für Formen der Subjektivität,
welche Haltungen etc. böten denn nun Quellen für widerständische
Praktiken. Oder könne nun eine linksradikale bzw. linke Praxis im
globalen Norden, die über das Gegebene hinaus wolle, nur auf die eigene
Überzeugungskraft verlassen, ohne an Vorhandenes anknüpfen zu können.
Für den Norden, d.h. die metropolitanen kapitalistischen Zentren habe
ich das weitgehend –bis auf Teile des migrantischen Spektrums-
bestätigt. Aus den Peripherien –und das sind über drei Milliarden
Menschen- brächten sich jedoch nach wie vor Kräfte der moralischen
Ökonomie vor allem in ihren Gerechtigkeitsvorstellungen zur Geltung.
Sie manifestierten sich in einer großen Vielfalt der Schattierungen in
den Prozessen vor allem der afrikanischen und asiatischen
Binnenmigration und würden über die transnationale Migrationsbewegungen
in die Lager, ja sogar die Metropolen getragen.
Text als Pdf
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