Metropolenblick.

 

Die Verkürzung der Auseinandersetzung mit der Agenda 2010 und die Gefahr des imperialistischen Einstiegs. Ein kritischer Beitrag zu K.H. Roths Initiative.

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Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst (Walter Benjamin).

 

Unter der Überschrift „Perspektiven von oben - Gegenperspektiven von unten“ hat der ak Überlegungen von Karl-Heinz Roth zur Agenda 2010 und dem globalen Akkumulationsregime veröffentlicht. Dieser verdienstvollen ak-Initiative zu einer revolutionären Debatte möchte ich durch eine pointierte Kritik weitere Nahrung geben. Mein grundlegender Einwand: es sind keine Gegenperspektiven von unten.

Die gegenwärtige Akkumulationsoffensive wird aus den innovativen Zentren („Cluster“) hauptsächlich der USA, EU und Japan betrieben. Alle globalen Übersichten zeigen, dass sie dabei das alte geostrategische Gefälle erneuert. Ihre größte Härte zeigt sie im Aufprall ihrer Wertschöpfungs- und Anpassungsstrategien auf die Peripherien der drei Kontinente. Gegenperspektive hieße: wie sieht dieser Aufprall dort aus, wie die Kämpfe?

Etwa China. In sein Inneres greift sie durch die Zertrümmerung der Staatbetriebe, Steigerung des Drucks auf die Agrarpreise und der Steuerlast auf die etwa 800 Mio. BäuerInnen, gnadenlose Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der etwa 150 Mio WanderarbeiterInnen für ihren kapitalistischen Verzehr in den Sonderwirtschaftszonen des westlichen Kapitals und städtischen Infrastrukturmaßnahmen, Entfesselung der jungen kapitalistischen Eliten, wachsende Repression mit hohen Todesraten. Die Vielfalt der Widerstandsformen reicht von hierzulande kaum vorstellbaren Besetzungen ganzer Städte, wilden Streiks bis zu militanten Auseinandersetzungen unter Beteiligung tausender Polizisten und BäuerInnen. Sie sind das Subjekt der Gegenperspektive von unten, das Subjekt der Erkenntnis der globalen Akkumulationsoffensive von einem welthistorischen Gewicht, das dasjenige der russischen BauernarbeiterInnen (ich rede nicht von den bolschewistischen Modernisierern) in der russischen Revolution auf einem neuen Niveau reproduziert.

Oder beim Nachbarn: der Widerstand in Polen gegen die Offensive der aus den Kommandoebenen der USA und EU moderierten Schockliberalisierung durch die „roten Thatcheristen“ in den Aktionen der Grubenarbeiter, Eisenbahner, der radikalisierten Krankenschwestern mit ihrer Besetzung des Gesundheitsministeriums und den landesweiten Bauernproteste der Jahre 99 ff.

Wie kommen sie in Roths Text vor? „Seine (des Akkumulationsregimes) Planer und Vordenker sind sich der Tatsache durchaus bewusst, dass die letzten noch verbliebenen äußeren Wachstumsquellen -vor allem die Rekonstruktionszone in Ostmitteleuropa und der gigantische „late comer“ China - in 10-15 Jahren erschöpft sein werden. Dann wäre (das kapitalistische Weltsystem) zum Untergang verurteilt, wenn ihm der Umschlag zu einer nach innen zurückschlagenden Dynamik nicht gelingen sollte. Hier sehe ich die entscheidende Ursache für die gnadenlose Härte…“ Und nun wendet sich der Artikel der Härte der mit der Agenda 2010 in Deutschland eingeleiteten Sozialpolitik zu.

Die chinesischen und osteuropäischen Unterklassen stehen für mehr als 5 Milliarden Menschen -mit Benjamin Subjekt des Kampfs und Quelle der Erkenntnis im weltweiten sozialen Antagonismus. Sie finden sich bei Roth zur versiegenden Quelle des Wachstums und Objekt des sich erschöpfenden Verzehrs verkürzt und abgeschrieben, da es nun um die gnadenlose Härte ins Innere Deutschlands geht. Das ist nicht Gegenperspektive von unten. Gegenperspektive von unten wären ihre Erwartungen, Hoffnungen, Gerechtigkeitsvorstellungen, die sie in ihren Kämpfen zur Geltung bringen und bis in die metropolitanen Perspektiven übertragen. Die Zirkulation ihrer Kampferfahrungen und -inhalte globalisiert sich in Anbetracht der beispiellos entwickelten Mobilität von Menschen und Informationen stärker als in jedem früheren Zyklus und sprengt die Grenzen in den metropolitanen Köpfen.

II. Diese perspektivísche Verkürzung hat ihren konzeptionellen Grund in fragwürdigen Vorstellungen vom Umbruch des Akkumulationsregimes. Das Neue daran sei „der Weg ins Innere der Gesellschaft“ in „Kontrolle über Produktion und Verteilung auf die gesamte Gesellschaft.“ Das ist grundsätzlich alles andere als neu. Es ist die historische Tendenz des Kapitalismus, den Ausweg aus zyklischen Krisen in der Vertiefung seiner Zugriffe in die lebendigen Ressourcen seiner Wertschöpfung zu suchen. Fordismus und Taylorismus waren vor allem geprägt durch den umfassenden Griff ins Innere der Gesellschaft und ihrer Aneignung zu „Humankapital“. Die Kämpfe in der Produktion belehrten uns über die arbeitsorgansatorischen Zugriffe in die sozialen und psychischen Dimensionen des Arbeitsverhaltens (Fliessband, Psychotechnik). Die Kämpfe der Frauen und Jugendlichen legten die Steigerung des patriarchalen Kommandos in der Zertrümmerung großfamiliärer Strukturen zur fordistischen Kernfamilie offen. Die Hausbesetzungen und Stadtteilkämpfe offenbarten die intensivierte Enteignung im planerischen Griff ins Innere der Lebenswelt am Leitbild der maschinisierten Stadt. In allen sozialen Bereichen entwickelten die Kämpfe um Emanzipation und Befreiung und über die Lohnfrage hinausgehende Wiederaneignung des eigenen Lebens die Gegenperspektive zur „Fabrikisierung der Gesellschaft“, der „inneren Landnahme“. In den Ländern der „Dritten Welt“ enthüllten die Kämpfe gegen die auf soziale Zertrümmerung und Inwertsetzung gerichtete Politik von IWF und Weltbank -die „blutige Taylorisierung“ (Alain Lipietz)- die Intensität des zerstörerischen Griffs ins soziale Gewebe.

Insgesamt hat der Fordismus gewaltige Reservearmeen der Massenarmut mobilisiert. Roths nostalgische Berufung auf seine „Vollbeschäftigungsmaxime“ wirbt für ein Produkt aus seinen Ideologiefabriken.

All diese Kämpfe brachten „die Perspektive von unten“ zur Geltung und das Regime in die Krise. Das Kapital wich in die transnationale Reorganisation aus und veränderte die Strategien des sozialen Kriegs. In einer Kette „neoliberaler“ Schockoffensiven sprengte sie den korporatistischen Kompromiss zwischen Kapital und Gewerkschaften auf und deregulierte die Rahmenbedingungen der Ausbeutung. Schon vor etwa zehn Jahren prophezeite der MIT-Ökonom Rudi Dornbusch, dass auch Deutschland, die letzte Festung des postnazistischen „rheinischen“ Korporatismus, „weich gekocht“ werden würde. Was die CDU-Traditionalisten nicht wagten, vollstrecken jetzt die Erneuerer aus Rot-Grün.

Die Zertrümmerung der in diesen Kompromiss eingebundenen sozialen Garantien, auf die sich Roth weitgehend beschränkt, ist nur ein Aspekt. Aus den sich neu auftürmenden Kathedralen der Wissensindustrie und -ökonomie werden im Verlauf der „schöpferischen Zerstörung“ des Alten (Schumpeter) völlig neuartige Diktate von Arbeitsunterwerfung und sozialer Zurichtung ins soziale Gewebe der Weltarbeitskraft getrieben. Nichts fundamental Neues, sondern eine Intensivierung der Zugriffsgewalt auf „neuer Stufenleiter“, wie Marx sich ausdrückte. Die in der „Wissensfabrik“ (Bertelsmann) organisierte Kapitalisierung der Produktion der immateriellen Triebkräfte von Produktivität und Herrschaft („intangibles“), setzt auf die Managementrevolution des Fordismus eine weitere Stufe der kapitalistischen Entwicklung auf. Ihre informatischen Schlüsseltechnologien verdichten das globale Kommando über die Arbeit, den öffentlichen Raum (biometrische Überwachung), flexible Grenz- und Lagerregime durch „smarte“ Zugangskontrollen bis zur Vernetzung militarisierter „Entwicklungsstrategien“ in der Kooperation von privaten NGOs, privatem und staatlichem Militär.

Das heißt: die ökonomische und technisch-soziale Seite dieser umfassenden Innovationsoffensive sind nicht zu trennen, eine ökonomische Verkürzung (und gar noch auf das „unproduktive“ Finanzkapital) birgt die bekannten verhängnisvollen Tendenzen. Es sind die Kämpfe selbst, die die revolutionären Strategien, Vorstellungen, „Erkenntnisse“ (im Sinne Benjamins) einer gerechten Welt völlig neu erfinden, in der Auffächerung des weltweiten Antagonismus. Erkenntnisse sind aus reduzierten metropolitanen Positionen allein nicht, ja nicht einmal vorrangig zu entwickeln.

III. Darum ist die bei Roth entwickelte mittlere „Gegenperspektive“ sehr problematisch. Einige Punkte:

Kehrt „die Massenarmut im Prozess der Deindustrialisierung in die Metropolen zurück“? Ein falsches Katastrophenszenario. Der beschriebene Prozess zielt auf die Etablierung eines weltweit mehrfach gebrochenen Ausbeutungs- und Elendsgefälles. Mehr noch als die fordistischen Industriezentren füttern die wissensindustriellen Zentren der neuen Cluster ihre globalen Avantgarden mit den höchsten Einkommen und unterfüttern sich mit einem Gefälle aus gehobenen Dienstleistungen mit mittleren Einkommen bis hin zu Überausbeutung der illegalen ArbeiterInnen eines umfassenden Servicegeflechts.(Reinigung, Pflege, Sexarbeit etc.). Die kostspieligen und störungsanfälligen „weichen“ Standortvorteile im Service sind derart wichtig, dass amerikanische Informatikunternehmen inzwischen die Auslagerung nach Bangalore oder Poona rückgängig machen, das Umfeld sei für die Optimierung der Elitenkreativität ungenügend. Die „Auslagerung“ der alten Sektoren industrieller Produktion in lohngünstige Armutszonen allerdings folgt den historischen Vorbildern der Reorganisation weltweiter Arbeitsteilung auf neuem Niveau.

Die Durchsetzung neuer Akkumulationsstrukturen erfordert gewaltige Kapitalmassen, die sie aus der Zerstörung alter Existenzgarantien, Zwangsersparnissen, Steigerung des absoluten Mehrwerts (als Ausweg aus Zwischenkrisen) aber auch neuen Formen defizitärer Finanzierung gewinnt. Dadurch unterscheidet sich der postfordistische wenig von fordistischen und vorausgehenden Zyklen. Allerdings auch nicht darin, dass die Verkürzung der sozialen Frage auf die Metropolen immer auch darauf zielte, die metropolitane Bevölkerung, auch gehobene Klassensegmente in die aggressiven Strategien zur Intensivierung der weltweiten Ausbeutung hineinzuziehen. Rosa Luxemburg bekämpfte dies in der reformistischen Wende der SPD. Hier sehe ich auch die größten Gefahren der Roth'schen Verkürzungen auf die ökonomischen Härten in Deutschland. Auch seine Klage über die Selbstzerstörung der historischen Sozialdemokratie trifft nicht. Die tut genau das, was sie in der damaligen Wende auch getan hat, bis hin zur Steigerung ihrer imperialistischen Kriegsbereitschaft. Darum gibt auch seine Auseinandersetzung mit der Agenda 2010 ohne Blick auf die von rot-grün zugleich betriebene Beteiligung an der kriegerisch-sozialarbeiterischen Entwicklung der Welt ein schiefes Bild.

Es folgt der Logik dieser Verkürzungen, wenn Roth unvermittelt zu einem unausgewiesenen Katalog von geradezu verfassungstechnischen Organisationsmaximen und Werten übergeht. Wenn man sich nicht an der weltweiten Entfaltung der Kämpfe und der in ihnen hervorgebrachten Gerechtigkeitsvorstellungen orientiert, mag man sich mit Roth vielleicht aus dem schon abgenutzten Korb alternativer Ideale für die Propaganda einer Art Sozialparlament im Sinne eines runden Tischs zur sozialen Frage bedienen: ein „breiten sozialen Bündnis“, „demokratisch“, mit „Delegations- und Rotationsprinzip“, das bis in die Gewerkschaften reicht, wobei darauf zu achten sei, dass „die extrem hohen Gehälter der Gewerkschaftsspitzen auf ein vertretbares Niveau zu senken“ sind, „auf mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit“ zielt und Flüchtlinge und MigrantInnen als Brücke zur „weltweiten Vernetzung mit anderen Standorten – Bewegungen“ nutzt. Die Maßstäbe? Dem ungekürzten Text (im Netz siehe Fußnote 2 oder www.aktionskonferenz.de)) sind einige überraschende Hinweise zu entnehmen. Die brasilianische Führung wird als „unbezweifelbar integer“ dargestellt, wo Lula doch derzeit die Hoffnung des Kapitals für seine lateinamerikanischen Perspektiven ist. IWF, Weltbank und Vereinte Nationen sollen uns in ihrer ursprünglichen Konzeption als „brauchbare Ausgangspunkte dienen“, sie seien lediglich deformiert und missbraucht worden. Kein Kommentar.

Der Kapitalismus ist nicht reformierbar. Die Griffe in das soziale Gewebe bilden eine Totalität und fordern den Widerstand in allen Bereichen heraus: gegen die Agenda 2010 sicher, aber als ökonomischen Ausdruck der globalen sozial-technischen Bemächtigungsstrategien in Produktion, im öffentlichen Raum, der Sozialkontrolle, der Entfesselung eines neuen Sexismus und Rassismus und auf dem Weg in der kriegerischen Durchbruch. Eine emanzipatorische Wiederaneignung des eigenen Lebens wird die Befreiung an allen ihren Fronten suchen. Auch wenn jede Auseinandersetzung an einem Punkt beginnt, sie bewegt sich notwendig ins Ganze. Die Reduzierung auf eine verkürzte, mittlere Lösung ist nicht Befreiung, sie birgt die Gefahr der Beteiligung. Europa hat den ersten Fuß im Krieg. Die Debatte drängt.

 

Detlef Hartmann

 

Eine leicht gekürzte Fassung ist in ak -analyse + kritik- Nr. 484 abgedruckt (21.5.04).

Der Text von K. H. Roth ist die überarbeitete Fassung einer Rede auf der Aktionskonferenz des Bremer Bündnisses gegen Sozialkahlschlag und Bildungsabbau am 20.02.04. siehe:
http://www.sozialplenum.de/buendnis-2010/aktionskonferenz/KHRothSozialkahlschlag.pdf