Hartmann

Bertelsmann: Treiber der Kultur eines strategischen Denkens

 

I. Zivile Macht, globale Ordnung, Krieg

Es lag wohl daran, dass die Kräfte, die die Dynamik von europäischer Einigung und geostrategischer Weltmacht im Laufe des Jahres 2005 blockieren sollten, sich noch nicht deutlich abzeichneten, dass Bertelsmanns Griff nach der Weltmacht sich in den Jahren 2003 und 2004 so aggressiv äußern konnte. Im Januar 2004 stellte Joschka Fischer dem International Bertelsmann Forum den "Weltsaal" des Auswärtigen Amtes für eine Konferenz über „Europas Alternativen" zur Verfügung. Für Bertelsmann formulierte das Centrum für angewandte Politikforschung unter der Leitung von Werner Weidenfeld, zugleich Mitglied des Präsidiums der Bertelsmann Stiftung, einen komplexen Entwurf eines Griffs nach der Weltmacht, wie er aus diesem Hause bis dahin noch nicht auf die Bühne und mitten in den „Weltsaal des Auswärtigen Amtes" getragen worden war. Von höchstrangigen Vertretern von Wissenschaft und Wirtschaft, internationalen Organisationen bis hin zum EU-Ratsvorsitzenden Ministerpräsident Bertie Ahern war die europäische Spitze in seltener Zusammenballung anwesend. Josef Janning lief für die Bertelsmann-Stiftung zu einer „Kultur des strategischen Denken" auf, um die Prozesse von Integration und Erweiterung zielorientiert miteinander zu verknüpfen und die internationale Rolle Europas, das längst zu einem magnetischen Kraftfeld für eine sehr große Weltregion geworden ist, klar zu definieren." (Pressemiteilung vom 12.01.2004) Die schriftliche Vorlage von 14 Seiten skizziert den umfassenden europäischen Anspruch. Europa soll in strategischer Partnerschaft mit den USA die globale Position einer der „wenigen Produzenten von Ordnung" einnehmen, und zwar in allen Bereichen: Wirtschaft, Energie, Transport, Infrastrukturentwicklung, Telekommunikation und Bildung, abgesichert durch ein gesamteuropäisches Verständnis einer „Strategiegemeinschaft" nicht nur in den Bereichen „ziviler Macht", sondern auch auf dem Gebiet militärischer Sicherheit in der Aufrüstung einer „gemeinsamen europäischen Armee". Es geht um die komplexe Hochrüstung Europas als „Kern einer neuen Weltordnung" in allen geostrategischen Perspektiven" („Europas Alternativen, Bertelsmann Vorlage zum IBF 09.-10. Januar 2004).

Ein Klima geostrategischer Initiative, kriegerische Gewalt, Bildung, Kern wirtschaftlicher globaler Entwicklung, wie geht das zusammen? Krieg und globale Ordnung, vielleicht. Krieg und Geostrategie, sicher. Aber Krieg, globale Geostrategie und Bildung? Bertelsmann betont hier einen Zusammenhang, der uns zunächst nicht geläufig ist. Unser Alltagsverständnis assoziiert mit Krieg, Zerstörung, Barbarisierung, Entzivilisierung, Zertrümmerung von Bildungswerten im blutigen Prozess. Ähnliches gilt für Krieg und wirtschaftliche Entwicklung: geprägt von den eingeübten Vorverständnissen zur Geschichte des 20-sten Jahrhunderts verbinden wir mit Krieg die Zerstörung und sinnlose Opferung wirtschaftlicher Werte zugunsten zerstörerischer machtpolitischer Ansprüche. Will Bertelsmann dahin zurück? Genau das will Bertelsmann. Ablesbar ist dies aus der oben wiedergegebenen Korrelation kriegerischer, bildungs- und ordnungspolitischer Strategien eines europäischen Kerns als globaler Akteur.

Wenn wir dies begreifen wollen, müssen wir aus unseren mühsam angelernten Vorverständnissen austreten und uns der Radikalität der wissensgesellschaftlichen Offensive stellen, die in keinem Konzern so Radikal verwirklicht ist, wie bei Bertelsmann.

II. Was ist Wissen? Was ist eine wissensgesellschaftliche Offensive?

Bertelsmann steht als maßgeblicher Agent für eine Erneuerung der wissensgesellschaftlichen Offensive, die Ende des 19. Jahrhunderts begann, die bis dahin bekannte „Welt" und „Lebenswelt" der Menschen zu zertrümmern und nach völlig neuen Vorstellungen zu zurichten, abzurichten und zu rationalisieren.

Worum es konkret aber auch grundsätzlich ging und noch immer geht, macht man sich am besten an einem Bild deutlich, dass Marx im ersten Band des Kapitals zum Verhältnis des Arbeiters und der Maschine gezeichnet hat. „Als Kapital, und als solches besitzt der Automat im Kapitalisten Bewußtsein und Willen, ist es daher mit dem Trieb begeistet, die widerstrebende, aber elastische Naturschranke [des Eigenwillens, D.H. ] auf den Minimalwiderstand einzuzwängen."[1] Diese Naturschranke hatte vor der Wissensoffensive des Taylorismus einen Namen : Autonomie. Das Kapital hatte zwar das technische Kommando in der Fabrik, das hatte aber eine Schranke : Die Qualifikationen der Arbeiter und auch der Angestellten. Diese Qualifikationen lagen nicht nur im facharbeiterischen Wissen und Fähigkeiten, sie gingen bis hinunter zu einfachen Tätigkeiten. Denn wie jemand arbeitete, wie schnell er arbeitete, das lag weitgehend in der Kompetenz der Arbeitenden selbst. Die Aufseher konnten nur von außen zusehen und offensichtliche Arbeitszurückhaltung und absichtliche Schlechtarbeit bekämpfen. Die Aufseher waren zum großen Teil selbst qualifizierte Facharbeiter, die auf der einen Seite zwar Leistungszurückhaltung erkennen und sanktionieren konnten, auf der anderen Seite aber ihre eigenen Kompetenzen gegen das höhere technische Personal sichern wollten. "Soldiering", die bewusste Kontrolle des Arbeitstempos von unten war der bestgehasste Stachel in den Köpfen der unternehmerischen Führungsebene. Die technisch-mentale Resistenz des Eigenwillens gegen Effizienzdiktate von oben war ein wesentlicher Grund für Blockaden und Stagnation der Wertschöpfungsdynamik in der sogenannten „Grossen Depression" des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Die Kontrolle über den Arbeitsablauf aus den Köpfen der Arbeiter nehmen und sie auf der Ebene der Unternehmensführung zu konzentrieren, war daher das Ziel der „wissenschaftlichen Betriebsführung". Taylor, Gilbreth und Gantt suchten daher mit ökonomischen Lockmitteln zunächst die Kooperation der Arbeiterinnen, um den Arbeitsprozess selbst bis in die Handbewegungen in Einzelteile zu zerlegen zum Teil mit fotografischen Bewegungs- und Zeitstudien, um sie dann als serielle Abläufe neu zusammenzusetzen, als virtuelles Fließband im menschlichen Bewegungsablauf. Industriepsychologen wie in Deutschland z.B. Münsterberg und Max Weber waren sich durchaus bewusst, dass sie damit nicht den Kern, das Zentrum und die Organisationsformen des menschlichen Eigenwillens erfassten und daher nur die innere Grenze im Menschen, die elastische Naturschranke neu zu definieren versuchten. Und das heißt: Als Transformation nicht von Herrschaft, sondern des human­sozial-ökonomisch-politischen Konflikts, und das heißt auch : des philosophisch-politischen Konflikts. Genau dieser lag, entgegen allen Mythen über den sogenannten „Rationalismus" Max Webers, im Kern seiner Überlegungen. In seiner berühmten „Protestantischen Ethik" heißt es :

„Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich-rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände." [2]

Die Ähnlichkeit mit der marxschen Formulierung ist kein Zufall. Neben Nietzsche ist Marx die wichtigste Bezugsgröße Webers : Der menschlichen Naturschranke galt seine ganz Aufmerksamkeit und Zugriffsintention. Allerdings: mit Nietzsche war er Marx gegenüber auf der anderen Seite der Barrikade. [3] Wie gewalttätig Weber diesen Rationalisierungsangriff sah, wie total sein gesellschaftliches Zugriffsfeld, ergibt sich aus seinen Betrachtungen zur Herrschaftssoziologie :

„Die höchsten Triumphe feierte die darauf aufgebaute rationale Abrichtung und Einübung von Arbeitsleistungen bekanntlich in dem amerikanischen System des „scientific management", welches darin die letzten Konsequenzen der Mechanisierung und Disziplinierung des Betriebs zieht. Hier wird der psychophysische Apparat des Menschen völlig den Anforderungen, welche die Außenwelt, das Werkzeug, die Maschine, kurz die Funktion an ihn stellt, angepasst, seines durch den eigenen organischen Zusammenhang gegebenen Rhythmus entkleidet und unter planvoller Zerlegung in Funktionen einzelner Muskeln und Schaffung einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhythmisiert. Dieser gesamte Rationalisierungsprozess geht hier wie überall, vor allem auch im staatlichen bürokratischen Apparat, mit der Zentralisierung der sachlichen Betriebsmittel in der Verfügungsgewalt des Herren parallel. So geht mit der Rationalisierung der politischen und ökonomischen Bedarfsdeckung das Umsichgreifen der Disziplinierung als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich und schränkt die Bedeutung des Charisma und des individuell differenzierten Handels zunehmend ein." [4]

Taylor und Weber haben diesen Abrichtungsangriff ausdrücklich in den Kontext der kriegerischen Zurichtung von Gesellschaft und der Welt gestellt. Taylor hat seine ersten Studien in der Waffenindustrie gemacht, Weber hat „Rationalisierung" in den militärisch­ökonomischen Kontext verortet.

Wie Weber dies richtig beschrieben hat, wurde diese „Abrichtung" als Rationalisierungsangriff in allen Dimensionen der Gesellschaft betrieben : Ausgehend von Industrie und Bürokratie, Logistik und Militär formulierte er auch die Grundstrategie für neue Initiativen der wissenschaftlichen Bemächtigung des Sozialen und Humanen, in Sozialpsychologie, Soziologie, Rassehygiene, Erziehungswissenschaften, Knasten etc. Grundsätzlich bleibt sie auch hier eine Strategie der Bemächtigung des Menschlichen, des Versuchs, die menschliche Naturschranke zurückzudrängen und neue Terrains der Seele verfügbar zu machen. Sicher war sie „total", sie zielte auf das Ganze von Mensch und Gesellschaft. Menschen wurden als „biochemische Aggregate" begriffen, Felder des Willens praktisch-technischer Bemächtigung und des „Erkenntniswillen" zugleich[5]. Goldscheids Begriff der „Menschenökonomie" nimmt den Begriff des „Humankapitals" im Verständnis der US-Ökonomen Theodore W. Schultz und Garry S. Becker auf der tayloristisch-industriellen Stufe vorweg.

Das „theoretische" Gegenwissen war dürftig. Aus der Perspektive des Kapitals und seiner bürgerlichen Wissenschaften erschien die Naturschranke des Eigenwillens nur als „Rest" (Simmel), als „Feld des Irrationalen", als „nichtzivilisierter Bereich" und damit Quelle der „Anomie". Es war „Terra inkognita" ein „schwarzer Kontinent" im Bereich der seelischen Kräfte, mit dessen Wissen, Kommunikationsformen, Gegenutopien, Suche nach Glück, kommunitären Strategien, moralischer Ökonomie (als Sorge für sich und die Anderen) sich das Kapital permanent auseinandersetzen musste. Der Erfindungsreichtum, die Kreativität des „Gegenwissens", sich in der Auseinandersetzung mit den Abrichtungsstrategien zu behaupten, hat nur in den kriminologischen Begrifflichkeiten des „abweichenden Verhaltens" und entsprechenden Feinderklärungen für das „Wissen" Bedeutung gewonnen. Das „Gegenwissen" in praktischer Hinsicht war der Aufruhr, Widerstand, die Revolte und der revolutionäre Prozess gegen diese offensive rationalisierende Abrichtung. Sie reichten über die radikalen und militanten Bauernarbeiterinnen aus den Dörfern Russlands und den Stätels Polens nicht nur bis in die ersten Operationsfelder tayloristischer Rationalisierung in Russland der metallverarbeitenden Industrie, sondern bis in die hightech Giganten der USA (Remington, General Electric etc.). Es wurde schnell deutlich, dass der Abrichtungszugriff sich mit Anreizen zur Selbstaktivierung und Selbstunterwerfung unter dem Druck der .materiellen Not verbinden musste, um überhaupt erfolgreich sein zu können. Der große „Mittler" war dabei die praktische Sozialarbeit und ihre Soziologie. Nicht nackter „Taylorismus", sondern die Anreizsysteme des „Fordismus" erschienen als Ausweg aus dem Dilemma. Die Sozialwissenschaften waren als Feld der wissensgesellschaftlichen Erforschung. An den Fronten des „Eigenwillens".

Es wäre jedoch falsch „Wissensgesellschaft" im damaligen Verständnis nur als Ansammlung von „Herrschaftswissen" zu begreifen. Vielmehr war „Forschung", die Schaffung von „Wissen" untrennbar mit dem Prozess praktischer Bemächtigung verkoppelt. Wissen wurde nicht „gefunden", es wurde als Bemächtigungswissen entwickelt. Befragung, Interview, teilnehmende Beobachtung, Umfragen waren Formen der Erschließung, die den Strategien der Erschließung des Humankapitals, der Seele folgten und sie Begleiteten. Sie war angewiesen auf die Bereitschaft, sich selbst zu öffnen, sich zu aktivieren, sich verfügbar zu machen. Damit blieb sie immer latent oder manifest abhängig vom praktischen „Gegenwissen" der lebendigen Naturschranke des Eigenwillens und der Formen, in denen sich die Potentiale des Nichtverfügbaren in der Auseinandersetzung mit den Bemächtigungsstrategien kleiden. Genauso, wie „Wissen" „Wissenskapital" eine praktisch-strategische Größe war und „Theorie" nur ihr immer wieder veränderter generalisierender Reflex, genauso war „Gegenwissen" an Auseinandersetzung, Kampf, Antagonismus gebunden. Die Wahrheit der „Theorie" und „Wissenschaft" war das praktische Gegenwissen aus der Auseinandersetzung. Das Gegenwissen war der Spiegel, der dem sozialen Wissen erst seinen wirklichen Inhalt gab. Die idealistische Philosophie (und damit Hegel aber auch noch Marx) haben dies aus der Position der „Negation" gefasst (in diesem Sinne wird Marx zu Beginn seines kritischen Lebens nicht müde, sich auf Spinozas Satz :"Omnis determinatio est negatio" zurückzubeziehen).

Die Geschichte der Totalisierung und Globalisierung des Taylorismus/Fordismus müssen wir hier überspringen. Es geht ja nur darum, die Bedeutung von „Wissen" im Prozess sozialer Bemächtigung zu charakterisieren. Foucault hat die Stadien der weltgeschichtlichen Entwicklung von „Wissen" und „Wissensgesellschaft" in seinen Vorlesungen zur

Entwicklung der „Gouvernementalität", dem „Willen zum Wissen" und zahllosen Aufsätzen beleuchtet und die Bedeutung und Dynamik der „Selbstaktivierung", der Selbstunterwerfung, des Zwangs zur Selbstöffnung, zum Geständnis, zur Beichte, zur Selbstdisziplinierung nachgezeichnet.

Wenn wir einmal die schon von Kant wissenstheoretisch gezogene Unterscheidung zwischen unbelebter und organisierter Natur zum Ausgangspunkt nehmen, so müssen wir die Bemächtigungsstrategien im Bereich des letzteren, also: Klassenkämpfe etc. zum Ausgangspunkt nehmen, um auch den Zusammenhang mit dem Bemächtigungsstrategien im Reich der unbelebten Natur zu begreifen. James Ritter, Michel Serres, Paul Benoit haben für die Frühzeit der Klassengesellschaften den Zusammenhang zwischen der Ausbildung mathematischer Systeme und der ökonomischen Bemächtigung so erfolgreich thematisiert, dass auch scheinbar „naturwissenschaftliches" instrumentelles Wissen an die sozialen Bemächtigungsstrategien gekoppelt erscheint. Über Marx zaghafte Versuche in den „Grundrissen" und in der Behandlung der englischen frühen KI-Spezialisten (wie Babagge und Ure) hinaus und an Lenins kläglichen Versuchen zum Empiriokritizismus und Widerspiegelungstheorie vorbei müssen wir uns im Rahmen der neuen wissensökonomischen Offensive erneut an die Strategien der sozialen Bemächtigung und in diesem Rahmen auch der „Naturbemächtigung" machen. Die Abhandlungen von Gell-Mann und Kaufmann, aber auch des Kreises um Castells an der Universität Stanford zur Frage der „Selbstorganisation" machen deutlich, welche kritischen Anstrengungen uns abverlangt werden, um eine neue Kritik des „Wissens" vagen zu können.

III. Die wissensgesellschaftliche Offensive, in die sich die verschiedenen Initiativen Bertelsmanns einschreiben und die sie maßgeblich mitbetreiben, reproduzieren die Offensive des „Scientific Management" auf neuem Niveau, Eine „Taylorisierung" der Wissensdurchdringung des Humanen in neue psychophysische und soziale Tiefen erneuern die alten Strategien in neuen technologischen Formen. Es geht um den Zugriff auf unerschlossene Kreativitätspotentiale. Die alte „Virtualisierung" des Arbeitsprozesses im abstrakten seriellen Ablaufschema entspricht die „virtuelle Universität", das „virtuelle Unternehmen", das mit „intelligentem Wissensmanagement" nach dem „Wissen in den Köpfen" greifen. Die Zerlegung des Studiums in seine modularen Bestandteile und ihre Neuzusammensetzung taylorisiert Lernprozesse und konzentriert das Kommando, die Herrschaft und die Kontrolle über die im übergeordneten Management. Selbstauskunft, Selbstaktivierung, die totale Öffnung der eigenen Lernressourcen, ihre Flexibilisierung unter den Anforderungen des „lebenslangen Lernens", die Flexibilisierung der eigenen Verfügbarkeit für diese Prozesse vertieft die menschenökonomische und wissensökonomische Erschließung neuen Humankapitals. Informationstechnologien vertiefen Führung und Kontrolle am Gängelband unhinterfragter „Software". Die Effizienzmaßstäbe der tayloristischen Prozesssteuerung werden um eine Stufe flexibilisiert zum „Benchmarking", der permanenten Leistungskontrolle anhand wettbewerbsorientierter Evaluationskriterien. So gut wie immer computergestützt.

All diese Dimensionen des wissensgesellschaftlichen Zugriffs bewirtschaftet Bertelsmann in seinen verschiedenen Unternehmungen.

Bertelsmann bettet sich dabei in die englischen und amerikanischen Vorstöße zur Dynamisierung der wissensgesellschaftlichen Kontrolle über die Welt ein. Auch in den USA gibt es wie in Europa die Debatte, wie sich das Kapital in einer wissensgesellschaftlichen Innovationsoffensive zum Motor des globalen sozialen Kommandos und der Erschließung der unerschlossenen Menschenreservoire machen kann. Es gibt das Pisa-Problem: in gleicher Weise wie hier klagt das nationale Wissensmanagement darüber, wie mangelhaft die Erziehungssysteme sind, wie sehr die amerikanischen Universitäten auf Zufluss von außen angewiesen sind, wie sehr dieser Zufluss an Begabungen bedroht ist durch die ökonomische Krise und die Konkurrenz mit Europa (weniger Japan). Wie sehr die Behauptung der wissensökonomischen Initiative und ihrer Dynamisierung erforderlich, um das Kommando über die chinesischen und indischen Arbeitsressourcen aufrecht zu erhalten und zu stabilisieren etc. etc. Im Augenblick hat es den Anschein, als ob der Diskurs über das wissensökonomische Kommando stark als atlantischer Diskurs profiliert ist (und zwar sowohl als Konkurrenz, als auch als Fragen von Kooperationsmöglichkeiten).

Dies genau ist es, was Bertelsmann mit Förderung einer „Kultur des strategischen Denkens" meint. Bertelsmann denkt und operiert nicht nur im europäischen Großraum, sondern im Anspruch auf Weltmacht, global. Weltmacht heißt auch jetzt wieder in Wiederholung des „Griffs nach der Weltmacht" von 1900 die Macht der wissenstechnischen Innovation aus den Industriekathedralen des fortschrittlichsten Managements. Was damals AEG, BASF und später IG Farben und die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" für den „Griff nach der Weltmacht" waren, verkörpert heute Bertelsmann. Der Bemächtigungs- und Machtcharakter wird aus einer einfachen Überlegung deutlich. Seit den 60er Jahren, seit den Untersuchungen von Norton, Abramowitsch, aber auch den späteren Nobelpreisträgern Schulz und Becker hat das Kapital seine Vorstellungen von „Produktivität" und „Produktivkräften" entdinglicht, „immaterialisiert". Frühe Berechnungen machten deutlich, dass die „immaterielle Seite" für enorme Produktivitäts- und Profitratenfortschritte verantwortlich waren. „Humankapital", das in den Köpfen lokalisierte kreative und produktive Wissen, „Sozialkapital", das in dem institutionell gut funktionierenden sozialen Dimensionen liegende Potential, ja sogar Mentalitäten, kulturelle Einstellungen, Religion wurden als Produktivkräfte erkannt. Die Überlegungen der amerikanischen „Think Tanks" zur Produktivität ganzer Gesellschaften und die damit verbundenen Initiativen zu ihrer Zerstörung und neu Zusammensetzung (vor allem am Beispiel Irak) bezogen und beziehen sich auch und vor allem zurück auf Webers Studien zur Religionssoziologie. Inzwischen gibt es massenweise Studien zu Fragen der Produktivität des Hinduismus, der chinesischen Religion, des Islam, dem Christentums als Ressourcen produktiv zu erschließender Mentalitäten. Die religionsstrategischen „Evangelisierungsprogramme" operieren genau auf diesem Feld.

Diese „humankapitalistische" Neueinstellung zum „Kapitalismus" trägt der Tatsache Rechnung, dass so gut wie niemand mehr davon ausgeht, als läge die Produktivität im Geld und in Maschinen. Die Aktivierung unerschlossener humaner Ressourcen in den Tiefen des psychophysischen Kontinuums, von denen Weber spricht, ist das zentrale Thema der aktuellen Debatten. Studien zu den Kreativitätspotentialen von Unternehmen führen dazu, dass inzwischen nicht mehr der Gesamtkomplex und good will physischer Unternehmenseinrichtungen im Zentrum des Interesses stehen, sondern, das „virtuelle Unternehmen" als Kreativitäts- und Wissenspotential.

Die Behandlung, Organisation, Aktivierung, Kontrolle und Effizienzsteigerung dieses Potentials hat sich Bertelsmann zur zentralen Aufgabe gemacht. Von der Entwicklung der „Wissensfabrik", der „knowledge factory" sprach schon Erving Horrowitz Anfang der 70er Jahre. Bei Bertelsmann heißt dies „Projekttyp Denkfabrik". Der Herstellung der Denkfabrik dienen die Rationalisierung der Lernprozesse in den „Bachelor- und Master-Programmen" in auch Forschungseinrichtungen des MIT haben sich mit der lebendigen Naturschranke Eigenwillen unter den Gesichtspunkten der Unsicherheit von Kontrolle, des Ausweichens vor der Erstickung in „Routinen", des „realen Betriebs" neben dem „virtuellen" Betrieb als „Störfaktor" (systemtheoretisch: innere Umgebung) auseinandergesetzt.

Diese Krisenhaftigkeit des wissensgesellschaftlichen Angriffs aus der Perspektive des Kapitals soll dem mündlichen Vortrag vorbehalten bleiben. Dass sie fundamentaler Natur ist, ist - unter logisch-philosophischen, aber auch neurophysiologischen - Gesichtspunkten wieder auf dem gerade zu Ende gegangenen Philosophie-Kongress zum Thema „Kreativität" deutlich geworden. Jenseits der Tumbheiten der deutschen Deterministen, wie z.B. Roth und Singer hat Searle in seinem Einleitungsvortrag kurz und knapp behauptet: Kreativität ist das, was du nicht kontrollieren kannst. Inzwischen operieren seit Eccles auch Benjamin Libet, Dreyfus und andere in der KI-Auseinandersetzung mit Begriffen, die aus dem Bedeutungsbereich „Seele" geschöpft sind. In der Tat kann man es durchaus so ausdrücken, dass die „Seele" als Feld der Auseinandersetzungen zwischen wissensökonomischer Rationalisierung und den Freiheitspotentialen der Menschen erkannt ist.

IV. Wie sich dies alles als „Gegenwissen" und äußern wird, ist unser politisches Thema. Eine „Kritik" reicht dazu natürlich nicht aus. Sie kann allenfalls die Begrenztheiten und methodischen Reduktionismen der Wissensmanager und ihrer Probleme mit der Kreativität des Humanen begrifflich fassen. Gegenwissen heißt aber das weite Feld, dessen Gestalten sich noch entwickeln werden: den Gestalten des freien Wissens vom Sozialen gegen die Akademie, den Formen der Verweigerung der Selbsttests, der Führung durch das standardisierte Wissensmanagement aus der Universität, das Sprengen der an diesen Gängelbändern geführten Vorlesungen, die Überwindung der Konkurrenzen im gemeinsamen Bemühen, die Suche nach den Kräften, die sich in anderen Bereichen ähnlichen wissensgesellschaftlichen Strategien entgegensetzen. Und dies ist in allen sozialen Bereichen, aber auch in den produktiven Bereichen und den Bürokratien der Fall.

Wie nie zuvor ist Gegenwissen eine Frage der Herstellung der Gemeinsamkeiten aus den verschiedenen Sektoren in den Auseinandersetzungen mit der wissensgesellschaftlichen Offensive. Dabei wird das Selbstverständnis des „Humanen" des Gegenwissens um seine ungeheuren Potentiale zum ersten Mal die Bewunderungsstarre für die Organisatoren des Wissensmanagements überwinden. Früher haben die davon betroffenen Schichten und Klassen bewundernd auf die Eliten gestarrt. Heute wissen wir um die Beschränktheit und die Ärmlichkeit ihrer Versuche. Das praktisch zum Ausdruck bringen ist „Gegenwissen".

Detlef Hartmann



[1] Karl Marx, Das Kapital 1, MEW Bd. 23, Seite 425

[2] Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1963,1 Seite 12.

[3] zu Nietzsches philosophischer Paraphrasierung und Identifikation mit der tayloristischen Offensive vgl. D.Hartmann, Empire, Linkes Ticket für die Reise nach rechts, Seite 48 ff., 184 ff.

[4] Max Weber in : Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, Seite 686

[5] Max Weber, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, in : Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Seite 254[5] vergl. Max Goldscheid, Höhe Entwicklung und Menschenökonomie, Seite 102, ders. "Die Organismen als Ökonomismen" Seite 85