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06.07.2001

Sehr geehrte Frau Mara,liebe Forumsbesucher/innen,

Seien Sie herzlichst bedankt für Ihre Idee zu einem Online-Forum anlässlich der Jährung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Ich wünsche Ihnen und uns eine ertragreiche und spannende Debatte.

In meinem (vielleicht zu langen?) Diskussionsbeitrag möchte ich mich stärker konzentrieren auf die Frage nach der deutschen Geschichtspolitik in der Kontroverse um die "Wehrmachtsausstellung". Dabei verwende ich einen Ausschnitt aus meinem kürzlich erschienenen Buch:

Michael Klundt, Geschichtspolitik. Die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das "Schwarzbuch des Kommunismus", Köln 2000.

Im Folgenden soll die Frage nach deutscher Geschichtspolitik gestellt werden. Es wird zu untersuchen sein, wie in der veröffentlichten Debatte die Wehrmachts-verbrechen behandelt wurden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der eigentümlichen Koalition von Befürwortern der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944«. Deren Instrumentalisierung der Ausstellung wird zum Anlaß genommen, die Ausstellung und ihre Macher kritisch nach ihrer Instrumentalisierungsfähigkeit und ihren Mängeln zu untersuchen. Im darauf folgenden Ergebnis werde ich einen Vergleich der Goldhagen- und der Wehrmachtsausstellungsdebatte anstellen.

1. Die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944

1.1. Intention und Wirkung der Ausstellung
Die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 informiert erst-mals öffentlichkeitswirksam über die in der Militärforschung und Geschichtsschreibung seit Jahrzehnten bekannte aktive Rolle der Wehrmacht als Institution im Prozeß des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma, an den sowjetischen Kriegs-gefangenen und bei den rassistischen Verbrechen gegenüber der osteuropäischen Zivil-bevölkerung. Sie zeigt in Wort und Bild die Resultate dessen, was lange vor Kriegsbeginn als imperialistischer Raub- und Vernichtungsfeldzug geplant worden war. Damit trägt sie in erheblichem Maße zur Aufklärung über die Rolle des Militärs im deutschen Faschismus bei. Folgerichtig wurde die Ausstellung - spätestens seit den konservativen und rechtsextremen Protesten im Februar/März 1997 in München - zum Agitationsfeld der extremen Rechten. Diese Auseinander-setzungen sind in der Presse ausführlich kommentiert worden und sollen deswegen im weiteren nicht Gegenstand sein, sondern hier nur kurz angerissen werden.
Während der Bayernkurier den »moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk« geißelte und die heutige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach (CDU), den »tiefen Riß zwischen den Generationen« beklagte, den die »Scheuklappenausstellung« zu verantworten habe, fand tatsächlich ein »Dialog der Generationen« statt. Dieser beinhaltete neben jahrzehntelang unterbliebenen konstruktiven Gesprächen über die Verantwortung der älteren Generation und die aktuelle Dimension des Themas auch die Tendenz zur harmonistischen Versöhnung mit den »von Hitler instrumenta-lisierten deutschen Opfern« unter weitgehendem Ausschluß der Verfolgten und ihrer Angehörigen. Das bisherige Schweigen über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, so Jan Philipp Reemtsma, geschah um den Preis, daß den Wehrmachtsveteranen der »Heldenstatus« abgesprochen und das Leiden der einzelnen Soldaten nicht thematisiert wurde. Auch Reemtsma rückt die Opfer zu sehr in den Hintergrund der Betrachtung. Der »Friede zwischen den Generationen« könne - so Hannes Heer, einer der Ausstellungskonzeptoren - nur dadurch hergestellt werden, daß »wir, das deutsche Volk« der Wahrheit ins Gesicht sehen; dies sei »ein kathartischer Prozeß«.
Diese eigenartige Intention der Ausstellungsmacher besteht also weniger in rücksichtsloser Analyse und Kritik der von Deutschen begangenen Verbrechen, als in versöhnender Forderung nach Verständnis und Einfühlung gegenüber den deutschen Tätern.

1.2. Die Bundestagsdebatte
In der Bundestagsdebatte über die »Wehrmachtsausstellung«, die von Heer als »epochemachend« gelobt wurde, läßt sich ebenfalls ein eigentümlicher Umgang mit Opfern und Tätern des deutschen Faschismus erkennen. In einem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und FDP wurde festgestellt, daß der Zweite Weltkrieg zu den furchtbarsten Tragödien »der deutschen und europäischen Geschichte« gehöre, der »Millionen auch deutscher Soldaten und Zivilisten zum Opfer« fielen. Die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges ausklammernd, wurde bezeichnenderweise zuerst an die deutschen Opfer erinnert. Ein Teil der nicht-»arischen« Opfer blieb jedoch auch von der CDU nicht gänzlich unerwähnt; Alfred Dregger beklagte in seiner Rede den unendlichen Verlust, »den die Nazis durch die Vernichtung der deutschen Juden vor allem auch Deutschland zugefügt haben«, da die Juden schließlich für Deutschland viel »geleistet« hätten. Christa Nickels (Bündnis 90/Die Grünen) zeigte sich nach ihrer sehr offenen Rede über das Schicksal von KZ-Opfern wie über das, was »man« mit SS-Männern - wie ihrem Vater - gemacht hat, in gleichem Ausmaß »erschüttert« - wer immer mit diesem »man« gemeint sein soll.

Aber auch andere Stimmen wurden laut. Otto Schily (SPD) würdigte z.B. seinen jüdischen Schwiegervater, der als Partisan gegen die deutsche Wehrmacht und damit im Gegensatz zu deutschen Soldaten für eine »gerechte Sache« gekämpft habe, und Freimut Duve erwähnte seine jüdische Großmutter, die unter der Aufsicht von Wehrmachtssoldaten ins KZ deportiert und dort ermordet wurde.

Insgesamt ist es jedoch sicher kein Zufall, daß in den Diskussionen um die Ausstellung, so auch in der Bundestagsdebatte, selbst diejenigen, die der »Wehrmachtsausstellung« positiv gegen-überstehen, der Frage nach dem aktuellen Umgang mit den Deserteuren, die bis heute als vor-bestraft gelten und nicht entschädigt wurden, ausweichen - von Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) und dem Wehrmachtsdeserteur und PDS-Bundestagsabgeordneten Gerhard Zwerenz einmal abgesehen. Die fehlenden politischen Konsequenzen offenbaren die mangelnde Glaubhaftigkeit dieser geschichtlichen Aufarbeitung. Dazu gehört auch die Ausblendung der neuen Qualität der Bundeswehr in der Bundestagsdebatte, deren Rolle an anderer Stelle jedoch taktisch geschickt mit der Aufklärung über Wehrmachtsverbrechen verbunden wurde. So z.B., wenn deutsche Militärs die Erwähnung und Distanzierung von Wehrmachtsverbrechen als die Legitimationsgrundlage für Militäreinsätze der Bundeswehr benutzen, die nun angesichts der dunklen Vergangenheit in um so hellerem Licht erstrahlen.

Dementsprechend bemerkte Generalmajor Klaus Frühhaber: »Die Bevölkerung dieses Landes soll erkennen, daß diese deutschen Soldaten andere Soldaten sind als die des Zweiten Weltkriegs.« Volker Rühe scheint ebenfalls seine Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben: »Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. (...) Nicht die Wehr-macht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein, wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front«. Ebenso emphatisch schloß Theo Waigel seine Rede, nachdem er die letzten Sätze von Stauffenberg zitiert hatte: »Das, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist die deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit, auf die wir auch stolz sein können.«
Es wird also ersichtlich, daß die Ergebnisse der Wehrmachtsausstellung konsequenzlos und kontextlos reduziert werden auf individuelle Erfahrungen. Sie werden zudem militärpolitisch instrumentalisiert oder mit Hilfe des »20. Juli«-Widerstandes relativiert.

1.3. Die Instrumentalisierung des »20. Juli«
Der an dieser Stelle von Rühe und anderen erwähnte militärische Widerstand nimmt in den Diskussionen über die »Wehrmachtsausstellung« eine entscheidende Rolle ein. Ungeachtet der Tatsache, daß es in der Ausstellung um die Verbrechen der Wehrmacht und nicht um ihre Verdienste geht, wurde vielerorts die Nichterwähnung der Gruppe um Stauffenberg beklagt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges galten die Mitglieder der Gruppe zunächst als Vaterlandsverräter, bis der militärische Widerstand - insbesondere von dem Alt-Bundespräsidenten Heuss - als konstitutives Moment für das Selbstverständnis der Bundesrepublik entdeckt wurde: »Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten Namen wieder weggewischt.« Diese reinigende Wirkung griff Volker Rühe auch in seiner Bundestagsrede auf, indem er ausführte, daß das Opfer nicht umsonst erbracht worden sei, es habe »Deutschland die Ehre und Würde wiedergegeben, die die Naziverbrecher unserem Land geraubt hatten.«
Angesichts dieser quasi-religiösen Glorifizierung, die mit einer Idealisierung der Motive der Verschwörer einherging, ist es leicht erklärbar, warum die »dunklen Flecken« - nämlich die Funktionen der Teilnehmer des 20. Juli während des deutschen Faschismus - in der Öffentlichkeit wenig bekannt sind. Christian Gerlach hat darauf hingewiesen, daß einige von ihnen die Massenverbrechen während des Krieges gegen die Sowjetunion nicht nur duldeten, sondern ihnen z.T. auch zustimmten und sie verantworteten, zu einem Zeitpunkt, als sie bereits das Attentat auf Hitler planten. Aufgrund ihres weitgehenden Involviertseins in den Vernichtungskrieg im Osten erscheint Rühes Verherrlichung des militärischen Widerstandes unangemessen. Hinzu kommt, daß die Wehrmacht faktisch bis heute die Tradition der Bundeswehr begründet, was neben personellen Kontinuitäten auch durch die Benennung von Kasernen nach ehemaligen Wehrmachtsoffizieren belegt wird.

1.4. Instrumentalisierung für ?moderne? Militärpolitik
In diesem Kapitel geht es um die vielfältigen Beziehungen zwischen Wehrmacht und Bundeswehr angesichts der neuen deutschen Weltpolitik.
Bei gleichzeitiger großer Befürwortung der Wehrmachtsausstellung läßt sich die weitgehende Zustimmung im Bundestag zu Militäreinsätzen im Ausland feststellen. Die neue Devise lautet offenbar: Wir marschieren - unter der Flagge der Menschenrechte - nur noch in den Ländern ein, denen gegenüber wir die vorherigen Verbrechen zugegeben und daraus gelernt haben. Aber »soll man für diese Ankündigung, künftig keinen völkisch-antisemitischen Aus-rottungskrieg mehr zu führen, sondern es bei den in Kriegen allgemein üblichen Grausamkeiten zu belassen, ernsthaft dankbar sein?«

Der seit dem 19. Jahrhundert von Deutschland geforderte einheitliche Wirtschaftsraum vom Atlantik bis zum Ural unter deutscher Hegemonie ist im dritten Anlauf mit zugegebenermaßen eindeutig friedlicheren Mitteln als in den vorherigen beiden Versuchen hergestellt worden. Welthandelsmärkte und Rohstoffquellen sind nicht mehr zu erobern, sondern es ist - wie die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« der Bundeswehr vom 26.11.1992 besagen - nurmehr der »ungehinderte Zugang« zu ihnen aufrechtzuerhalten.

In der momentanen Phase der kapitalistischen Weltordnung geht es also eher um Besitz-standswahrung und um die Abschottung gegen Flüchtlinge. Damit aber kein Bundeswehrsoldat auf die Idee kommt, die Traditionslinien der Bundeswehr ganz zu vergessen, schreibt der Oberstleutnant Reinhard Herden vor dem Einsatz im offiziellen Bundeswehrorgan Truppenpraxis/Wehrausbildung: »Sind Deutschland und die Bundeswehr wirklich mit aller Konsequenz bereit, sich auf Gegner einzulassen, die nichts zu verlieren haben? Sie werden auf einen Gegner treffen, der Gefallen am Töten gefunden hat, (...) der zu unbeschreiblichen Greuel-taten fähig ist und seine Landsleute opfert, um zu überleben. Verrat ist ihm zur zweiten Natur geworden. (...) Ist die Bundeswehr bereit und legitimiert, dieser Bedrohung notfalls auch mit brutaler Gewalt zu begegnen? Nicht immer wird man die Schmutzarbeit den Partnerländern überlassen können.« Hier wurde nicht nur die Sprache, sondern auch die Legitimationsfigur der Befehle zu den Verbrechen der faschistischen deutschen Wehrmacht nahezu wörtlich übernommen.

Für Brigadegeneral Goebel, der sich 1997 mit seiner Truppe in Bosnien aufhielt, war das »Kernstück« der militärischen Vorbereitungen für Bosnien »die Ausbildung in Hammelburg«. Gleichzeitig »trainierten« seine Soldaten in der Kaserne von Hammelburg Hinrichtungen und Vergewaltigungen und zeichneten diese auf Video auf. Einen Monat nach Goebels Interview tauchte das zweite Video - gedreht von Soldaten und Offizieren des Gebirgsjägerbataillons 571 - auf, in dem ein Gemisch aus Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Hitlerverehrung und rechtsradikaler Musik aufgezeichnet ist. Die Soldaten, die - wie auch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr herausfand - die Bundeswehr umso mehr lieben, je weiter rechts ihre politische Einstellung angesiedelt ist, »üben« sich auf jeden Fall schon einmal in der von Herden geforderten »Schmutzarbeit«. Andere Bundeswehrsoldaten trainieren mit rassistischen Gewaltaktionen im Inland (z.B. 1997 in Detmold, Dresden etc.) für den Einsatz im Ausland.
Ein »Generationengespräch« der besonderen Art fand 1997 wiederum in Hammelburg statt. Dort empfing die Bundeswehr unter der Schirmherrschaft von Edmund Stoiber die 1955 gegründete »Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger des Eisernen Kreuzes«, deren Träger von Hitler persönlich auserwählt und z.B. für die Teilnahme an Massenmorden ausge-zeichnet wurden. Um die Verbundenheit von Wehrmacht, Waffen-SS und Bundeswehr zu demonstrieren - und möglicherweise »Bitburger Erinnerungen« zu wecken -, erschien der Brigadegeneral und Kommandeur der Infanterieschule von Hammelburg, Wulf Wedde, in Uniform. Es handele sich schließlich nicht um eine »politische« Veranstaltung.

In diesem Kapitel sollte deutlich werden, daß und wie neue Bundeswehr-Militäreinsätze im Ausland mithilfe von Wehrmachtsverbrechen gerechtfertigt werden. Zweitens sollte gezeigt werden, auf wie tiefgründige Art und Weise die Bundeswehr - insbesondere durch die neue Militärpolitik - immer wieder von den Traditionen ihrer Vorgängerin Wehrmacht eingeholt wird (vgl. den weit verbreiteten Rechtsextremismus von der obersten Führungsebene bis hinunter zu den einfachen Soldaten).

1.5. Mängel in der Ausstellungskonzeption

1.5.1. Fehlender historisch-gesellschaftlicher Kontext
Die Möglichkeit, im Bundestag und in der breiten Öffentlichkeit über die »Wehrmachtsausstellung« zu sprechen, ohne die dargestellten Kontinuitäten zu thematisieren, liegt teilweise in der Konzeption der Ausstellung selbst begründet. Indem sowohl die imperialistische Vor- als auch die Nachgeschichte des deutschen Vernichtungskrieges über-wiegend ausgeblendet wird, entsteht die Möglichkeit, den Vernichtungskrieg isoliert vom deutschen Faschismus und seiner sozialen Genese zu betrachten.

Unberücksichtigt bleiben in der Ausstellung historische Vorbedingungen und Ursachen des Zweiten Welt-krieges, durch die das Erkennen von personellen, ideologischen und strukturellen Kontinuitäten innerhalb der Machteliten aus Wirtschaft, Militär, Justiz, Wissenschaft und hoher Staats-bürokratie ermöglicht worden wäre. Von zentraler Bedeutung wäre z.B. die Einbettung der in der Ausstellung erwähnten Staatssekretärstagung vom 2.5.1941, in der es lapidar hieß, daß zugunsten der systematischen Ausplünderung der Sowjetunion »zweifellos zig Millionen Menschen verhungern« werden , in den Gesamtzusammenhang der faschistischen Vernichtungsprogramme gewesen. Dazu gehören beispielsweise die Wirtschaftsstab-Ost-Tagung vom 23.5.1941 und der Generalplan Ost, in denen ebenfalls der Massenmord an über 20 Millionen Menschen in Osteuropa zur »Germanisierung« des Ostens, die Ausweitung des deutschen Herrschaftsbereichs sowie die Versklavung der »Restbevölkerung« vorgesehen waren. Nur mit Hilfe der Analyse von Interessen- und Zielkoalitionen von der Planungs- bis zur Aus-führungsebene könnte die besondere Bündniskonstellation des deutschen Faschismus und die Rolle der Wehrmacht darin deutlich gemacht werden. Von alldem aber erfahren die Besucher/innen der Ausstellung nichts. Was ihnen bleibt, ist das Erschrecken und die Erschütterung über so viele von deutschen Soldaten begangene Verbrechen. Ohne die Thematisierung der Vor- und Nachgeschichte des deutschen Vernichtungskrieges bleibt dieses Kapitel deutscher Verbrechen jedoch nicht nur unbegriffen und offen für populäre Antworten und Ursachenerklärungen (z.B. über »das Böse« im Menschen, Deutschen etc.), es bietet auch die Möglichkeit der geschichtspolitischen Instrumentalisierung. Da ich diesen Aspekt der Instrumentalisierungsfähigkeit in der Debatte um die Wehrmachtsausstellung für zentral erachte, werde ich die Kritik des Ausstellungskonzepts, welches ich maßgeblich dafür verantwortlich mache, um einen weiteren Aspekt vertiefen.

1.5.2. Das Totalitarismusmodell des Hamburger Instituts

Nicht nur die Besucher/innen der Ausstellung bleiben im Unklaren über die Bedingungen, unter denen ein Vernichtungskrieg realisiert werden konnte, und nicht nur sie stehen in Gefahr, simplifizierende Antworten auf das massenmörderische Grauen zu suchen. Auch die Ausstellungsmacher selbst, die wie Klaus Naumann die Auslassung kausalgenetischer Aspekte in der Ausstellung zu ihren Vorzügen zählen, können ihr Nichterklärbarkeitsverdikt nur begrenzt aufrecht erhalten. Auch sie fallen zuweilen zurück in simplifizierende Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Wehrmachtsverbrechen. Statt einer Einordnung der Wehrmacht in die Entstehung und Entwicklung des deutschen Faschismus bietet z.B. Hannes Heer der Totalitarismustheorie neue Nahrung, wenn er seine drei-monatige DKP-Mitgliedschaft 1968 gleichsetzt mit dem dreimonatigen »Volkssturm«-Einsatz eines Wehrmachtssoldaten am Ende des Krieges. Außerdem wirft er am Ende eines Auf-satzes zur Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust völlig zusammenhanglos ein: »Die revolutionären Aktionen und militanten Streiks der Linken hatten, auch wenn sie sich internationalistisch verstanden, mit den Putschen und politischen Morden der nationalen Rechten gemein, Gewalt als politisches Mittel definiert und legitimiert zu haben«. Hier wird offensichtlich die Wurzel von Wehrmacht und Reichswehr in den präfaschistischen Freikorps - und deren Massenmorde v.a. an Linken in der Weimarer Republik - ausgeblendet. Auch der Anteil derjenigen gesellschaftlichen Eliten wird verschwiegen, die genauso ziel-strebig, wie sie schon vorher dem Ersten Weltkrieg und der Zerstörung der Weimarer Republik den Weg bereiteten, auf den zweiten »Griff nach der Weltmacht« zuarbeiteten.

Bisher hatte es die Wehrmachtsausstellung vermieden, auf Kontinuitäten zwischen Wehrmacht und Bundeswehr hinzuweisen. Dies hat sich nun - totalitarismustheoretisch - geändert: In der Dresdener Ausstellung zu den Wehrmachtsverbrechen gab es einen Annex mit Bildern und Texten über die Nationale Volksarmee und die DDR. Somit wurde die Kontinuität zwischen Wehrmacht und Bundeswehr zu einer Kontinuität zwischen Wehrmacht und NVA und damit zu einem DDR-Problem stilisiert.

Seit dem 4. November 1999 befindet sich nun die Ausstellung in einem - auf drei Monate angelegten! - Moratorium zur Überprüfung der Exponate durch ein Expertengremium. Begleitet von einer großangelegten Kampagne in der FAZ vom 20., 21. und 22. Oktober 1999 versuchten die beiden Historiker Krisztián Ungváry aus Ungarn sowie Bogdan Musial aus Polen nachzuweisen, daß ein Teil des in der Ausstellung präsentierten Bildmaterials nicht Wehrmachtsverbrechen zeige, sondern u.a. solche des sowjetischen Geheimdienstes NKWD (vgl. FR vom 21.10.99). In den darauf folgenden Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, daß die beiden Historiker mit gutem Grund lediglich etwa ein Dutzend Fotos kritisierten, während ihre Fundamentalkritik an der Ausstellung wissenschaftlich unsauber hergeleitet war (vgl. FR, 26.11.99). Auf die Frage der WELT vom 6.11.1999, ob es denkbar sei, »dass in der neuen Ausstellung auch die gegenseitige Verschränktheit der nazistischen und kommunistischen Barbarei thematisiert wird«, antwortete Jan Philipp Reemtsma: »Das kann ich mir sehr gut vorstellen.« Damit scheint sich in der Neukonzeption der Ausstellung der totalitarismustheoretische Ansatz vollends durchzusetzen.
In diesem Abschnitt konnte gezeigt werden, wie groß die Instrumentalisierungsfähigkeit der Wehrmachtsausstellung ist und wie ihre Macher selbst, auf Grund ihrer totalitarismustheoretischen Wendung, historische Kausalverhältnisse außer acht lassen und einer geschichtspolitischen Instrumentalisierung Vorschub leisten.

1.6. Instrumentalisierung für Rechts-Politik
Jürgen Koppelin, der Wehrexperte der FDP, bemerkte, daß es notwendig sei, die Taten der Wehrmacht zuzugeben, da ansonsten weder DDR-Grenzsoldaten vor Gericht gestellt noch die Bundeswehr an Orte geschickt werden könne, an denen die Wehrmacht schon war. Dieses »Un-Recht« hat Koppelin gut erkannt, denn der Bundestag lehnte noch 1952 eine Klausel der Europäischen Konvention der Menschenrechte ab, in der festgelegt war, daß auch die Verurteilung solcher Handlungen nicht ausgeschlossen werden dürfte, bei denen sich zwar nach inländischem Recht der Täter nicht strafbar gemacht habe, wohl aber nach dem allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Recht. Die Ablehnung dieser Klausel diente nicht zuletzt dem Schutz ehemaliger Wehrmachtssoldaten, und dies in einer Zeit, in der nur noch von »sog. Kriegs-verbrechern« die Rede war. Dieser Konflikt hat sich mittlerweile »biologisch« gelöst - die ehemaligen Täter sind entweder in Rente oder tot, was den Traditionserlaß politisch durch-setzbar gemacht hat. So war es problemlos möglich, sich bei der Aburteilung ehemaliger Mitglieder des DDR-Politbüros auf genau diese Klausel zu stützen.
1.7. Ergebnis

Die Ausstellung zu den Wehrmachtsverbrechen wurde initiiert vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Dadurch fanden - in der nicht-rechtsextremistischen Militärforschung und Geschichtsschreibung seit Jahrzehnten gesicherte - Erkenntnisse über die Verbrechen der Wehrmacht eine öffentlichkeitswirksame Verbreitung. Verstärkt wurde und wird diese Wirkung durch die seit München 1997 am jeweiligen Ausstellungsort stattfindenden rechtskonservativ bis rechtsextremen Proteste gegen die Ausstellung und die dadurch stattfindenden öffentlichen Kontroversen. Weiteren Bekanntheitsgrad erlangte sie durch die Debatte im Bundestag. Außerhalb des rechtskonservativen bis rechtsextremen geschichtswissenschaftlichen und politischen Lagers stieß die Ausstellung nur auf positive Resonanz. Unter den Befürworter(inne)n befanden sich einige, die die Ausstellung militärpolitisch und somit geschichtspolitisch instrumentalisierten.

Es läßt sich festhalten, daß die Kontroversen um Goldhagens Buch und um die Wehrmachtsausstellung zu den maßgeblichen Deutungskämpfen um die Vergangenheit seit dem Historikerstreit in den 80er Jahren gehören. Solche Auseinandersetzungen sind immer auch Ausdruck des Selbstbildes, welches eine Gesellschaft - vermittelt über die veröffentlichte Meinung - von sich hat. Sowohl die Ausstellung als auch Hitlers willige Vollstrecker sind gekennzeichnet von einer relativ isolierten Betrachtung ihrer Untersuchungsbereiche ohne Beachtung des gesell-schaftlichen Kontexts bei der Genese, Funktion und Wirkung des deutschen Faschismus und seiner Verbrechen. Auch was die ideologischen, personellen und strukturellen Kontinuitäten nach 1945 bis heute betrifft, wird bei beiden ausgespart, was aber - wie oben gezeigt - mit ihrer jeweiligen Methode und Intention zusammenhängt. Trotz intensiver Debatten kann nicht geleugnet werden, daß eine isolierte Betrachtung einzelner Momente der Vergangenheit die Verdrängung von wichtigen Kausalzusammenhängen zur Folge hat. Es ist ebenfalls nicht verwunderlich, daß diese Themen erst jetzt öffentlich in Angriff genommen werden, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Generation der Täter fast völlig ausgestorben ist oder zumindest nicht mehr in den maßgeblichen Institutionen sitzt, in denen sie die Aufklärung über die faschistischen Verbrechen und deren Träger durch ihre Macht verhindern könnte.
Im Kontext der Wehrmachtsausstellung war die Frage nach den Tätern (auch in der eigenen Familiengeschichte) Ansatzpunkt für viele Menschen, sich darüber hinaus mit der Institution Wehrmacht und dem NS-Faschismus zu beschäftigen. Und auch Teile von Goldhagens Buch bieten Ansatzpunkte, genauer über den spezifisch »Deutschen Weg der Judenemanzipation« (Grab 1991), d.h. über die gesellschaftliche Geschichte des deutschen Antisemitismus, nachzudenken. Gemeinsam haben sie eine neue Täterforschung angeregt.

Der überkommene Blick auf den Holocaust und die faschistische Vernichtungspolitik wurde sowohl von der Wehrmachtsausstellung als auch von Goldhagens Buch (ebenso durch Christopher Browning) in einer breiten Öffentlichkeit revidiert: Weit mehr als bisher angenommen war der Holocaust auch ein von Nicht-Nationalsozialist(inn)en getragener und durchgeführter Massenmord, an dem immer konkrete Menschen mit Freiräumen der Verweigerung beteiligt waren. Er war mehr Menschen, als bisher zugegeben, bekannt, wurde als selbstverständlicher erachtet und von mehreren Gruppen getragen, als bisher proklamiert. Die einseitige öffentliche - nicht wissenschaftliche - Wertung des Holocaust als anonyme »industrielle Massenvernichtung« ist nur bedingt richtig.

Auch die Mängel der Wehrmachtsausstellung (isolierte Betrachtung, weitgehend ohne gesellschaftliche Genese, Kontext und Kontinuitäten) werden durch weiterbringende oder zumindest öffentlichkeitswirksamere Erkenntnisse auf der wissen-schaftlichen und z.T. geschichtspolitischen Ebene ausgeglichen. Dennoch fand mit der Aus-stellung über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten eine stärkere Instrumentalisierung für eine neuerliche deutsche außenpolitische Machtpolitik statt, als mit Goldhagen; dies ist um so erstaunlicher, als beim anhaltenden und stärker werdenden Anti-semitismus, wie auch beim Rechtsextremismus (in der Bundeswehr) die Kontinuitäten eigentlich auf der Hand liegen.

Durch seine neuerliche Parallelisierung der serbischen Kosovo-Politik mit der faschistischen Vernichtungspolitik, seinem Ruf nach Nato-Bodentruppen, um Serbien zu besiegen, zu besetzen und umzuerziehen, trägt Goldhagen inzwischen selbst dazu bei, seine eigenen historischen Ergebnisse zum Holocaust militärpolitisch und geschichtspolitisch zu instrumentalisieren. Durch seine Reduzierung des Antisemitismus in Deutschland und des serbischen Nationalismus der Gegenwart auf phänomenologische kulturelle Probleme, wird die historische Bedeutung des Holocaust vollständig ignoriert und dieser zum geschichtspolitischen Argument zurechtgestutzt.

Die Analysen der Goldhagen-Kontroverse wie der Debatten um die Wehrmachtsausstellung beweisen also auch, daß sich die »Absage an die Vergangenheit (...) mit einer Heiligsprechung der Gegenwart verbinden« läßt. So lobte Goldhagen die heutige deutsche Innen- und Außenpolitik sowie die deutsche »Vergangenheitsbewältigung« als vorbildhaft und als »Leitbild« für andere Länder, während die Hamburger Ausstellungsmacher immer wieder betonen, daß sie weder die Wehrmachtssoldaten an den Pranger stellen noch die Bundeswehr angreifen wollten. Hierbei handelt es sich im Gegensatz zum schlichten Revisionismus um eine reibungsfreiere und standortgerechtere Instrumentalisierung der jüngeren Geschichte für die (zukünftige) deutsche (Außen-)Politik.
Hieß es früher, daß die Bundeswehr nicht an Orten eingesetzt werden könne, wo die Wehrmacht Vernichtungskrieg und Holocaust ins Werk setzte, so wird heute aus den Schrecken des Faschismus die moralische Verpflichtung zum Bundeswehreinsatz abgeleitet. Durch eine instrumentelle Berufung auf Auschwitz und den Vernichtungskrieg soll unter dem Deckmantel »Nie wieder Auschwitz« (so der Außenminister Fischer u.a.) in aller Welt mit deutschen Soldaten interveniert werden können. Damit verbunden werden - z.B. im Falle Jugoslawien - die Metaphern des Nationalsozialismus an »die Serben« weitergereicht. So wird versucht, sich symbolisch in die »antifaschistische Koalition« einzureihen. »Die Ausweitung des Instrumentariums imperialistischer Machtpolitik wird so zur verantwortungsbewußten moralischen Läuterung verklärt.«

Es wird demnach nicht mehr verdrängt oder verschwiegen, sondern die Vergangenheit wird ohne die Fragestellung nach sozialem Kontext und ideologischen, personellen und strukturellen Kontinuitäten thematisiert und zerredet, »um sie zum Verschwinden zu bringen«. Damit ist die deutsche Katharsis vollbracht und der Weg für den dritten »Griff nach der Weltmacht« bedarfsgerecht geglättet. Die beiden Geschichts-debatten lassen sich insofern in ihrer Wirkung letztlich als standortpolitische Infrastrukturmaßnahmen bezeichnen.

Für die Wehrmachtsausstellung wie für Goldhagens Buch gilt, daß mit ihnen oder gegen sie Geschichtspolitik betrieben wurde und wird. Daran wirkten aber - geschichtswissenschaftlich und geschichtspolitisch - nicht nur politische Kräfte, Publizistik, Wissenschaft und veröffentlichte Meinung mit, sondern ebenso die Ausstellungsmacher und Goldhagen selbst. Ihre weiteren Auswirkungen werden von zukünftigen und gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen (Deutungs-)Kämpfen und Kräfteverhältnissen abhängen. Darin wird es um die Frage gehen, welche sozialen, politischen, institutionellen Bedingungen und Interessen zusammenwirkten, damit die Denkmöglichkeit Faschismus, Vernichtungskrieg und Judenmord sich erstens herausbilden, zweitens verfestigen und drittens zur Realität werden konnte und wie dem »Nazismus mit seinen Wurzeln« in Zukunft ein für alle mal das Wasser abgegraben werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Klundt