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"Materialien für einen neuen Antiimperialismus" , Arbeitspapier (1998),

Migration als soziale Bewegung. Vier Thesen


1. Migration als soziale Bewegung

"Kommunismus nennen wir die reale soziale Bewegung, welche die gegenwärtigen Zustände aufhebt".
Marx gegen die Utopisten und gegen die Vordenker einer neuen Ordnung: Aufhebung der Klassengesellschaft durch reale soziale Bewegung.

Was ist eine soziale Bewegung? Die Zeiten sind längst vorüber, daß eine Partei darüber entschied, was als soziale Bewegung zu gelten habe. Wer sich als Intellektueller, oder in der Situation eines privilegierten weißen Manns, aber auch als weiße Frau, der Aufhebung der transnationalen Ausbeutung mit ihrer mörderischen Ungerechtigkeit zuordnen will, sollte sich diese Frage stellen.

Die erste These, die ich hier vortragen möchte, lautet: Migration ist reale soziale Bewegung. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders ergiebig klingen. Aber so ewig ist es gar nicht her, daß Parteimarxisten, im Verein mit Bevölkerungstheoretikern, Kriegsherren und Modernisierern, die MigrantInnen als entwurzelte Massen, Heuschreckenschwärme, Lumpenproletarier, Überschußbevölkerung bezeichnet haben, während die Ehre, eine soziale Bewegung zu sein, nur dem ansässigen und arbeitsamen Anteil der Bevölkerung zuerkannt wurde. Und es ist bei unseren Freunden in Kirche und Gewerkschaft durchaus verbreitet, sich MigrantInnen, Flüchtlinge nur als Opfer von Gewalt und Vertreibung vorzustellen. Das ist natürlich nicht falsch, aber es ist doch nur die Hälfte der Wahrheit.

Migration ist soziale Bewegung: sie ist nicht nur Flucht vor Zerstörung, Folter und Massakern, sondern zugleich Aufbruch, Abstimmung mit den Füßen, Suche nach einem besseren Leben. Ich gehe sogar noch weiter: weil die MigrantInnen, die aus der Peripherie in die industriellen Zentren kommen, das Prinzip der gegenwärtigen Weltordnung, das Prinzip des freien Kapitalverkehrs bei begrenzter Freizügigkeit der Menschen, durchkreuzen, bilden sie eine soziale Bewegung, welche die realen Zustände real aufhebt.

Sind das Wortspielereien? Ich denke, nicht, denn es geht mir um die Konsequenz daraus. Natürlich ist es wichtig, Fluchtursachen zu erkennen, besonders dann, wenn wie in Kurdistan deutsche Waffen und deutsche Entwicklungsblaupausen zu den Fluchtursachen gehören. Aber mancher, der von Bekämpfung der Fluchtursachen redet, meint eigentlich etwas anderes: die Kurden sollen ihre Dinge vor Ort regeln, statt hier Autobahnen zu blockieren, die Ghanaer sollen zu Hause Gewerkschaften gründen oder Subsistenzbau betreiben, statt hier mit Drogen zu handeln, die Sinti und Roma und die Albaner sollen sich in Mazedonien oder sonstwo integrieren, statt hier Autos zu knacken und Messer zu stechen. Hinter dem Gerede von Fluchtursachen verbirgt sich nicht selten ein offener oder auch ein geheimer Ordnungswille, ein Willen zum Erhalt der gegenwärtigen sozialen Ordnung, wie andererseits hinter unserer Rede vom elementaren Recht auf Freizügigkeit durchaus die Hoffnung steht, daß die hiesigen versteinerten Verhältnisse durch einen Zustrom von MigrantInnen aufgeweicht werden und daß sich alles Deutsche in einer neuen, nicht mehr national, sondern von unten her bestimmten Gesellschaftlichkeit auflösen möge.

Wenn wir einen ganz kursorischen Blick zurück in die Geschichte werfen, findet sich eine Fülle von Hinweisen, daß Mobilität und Migration ein elementares Datum der meisten sozialen Bewegungen gewesen ist. Wir haben früher gelernt, daß der Kapitalismus die Menschen vom Land vertrieben und in die Städte geschwemmt habe, durch die Einhegungen und die Kapitalisierung der Landwirtschaft. Erst die jüngere Geschichtsforschung hat gezeigt, daß die Mobilität der Bevölkerung der kapitalistischen Entwicklung lange vorausging. Untersuchungen aus verschiedenen europäischen Landgemeinden des 17. Jahrhunderts haben eine Mobilität erkennen lassen, die auf gleicher Höhe lag wie zur Blütezeit der Industrialisierung (Charles Tilly, 1978, 63). Diese Mobilität war ohne Zweifel entscheidend dafür, daß die alten Instanzen patriarchaler Kontrolle außer Funktion gesetzt wurden und daß die Volksmassen den Geschichtsprozeß so nachhaltig beeinflussen konnten. Oft hat sich gezeigt, daß politische Radikalisierung und Migration zwei Seiten desselben Aufbruchs sind, zwei Bewegungsformen, die sich aus demselben Impuls herleiten: aus der Überwindung der alten Fesseln. Nach dem Scheitern von 1848 setzte die Massenemigration aus Europa, hauptsächlich nach Amerika, ein, oder, ein anderes Beispiel, in Italien radikalisierte sich zu Beginn dieses Jahrhunderts die Bevölkerung bestimmter Dörfer, während sie sich in anderen Dörfern nicht radikalisierte. Stattdessen wanderten dort die Jüngeren in die USA aus (Mc Donald, 1963). Es liegt an verschiedenen Faktoren, ob sich die Menschen zum Kampf vor Ort oder zur Migration entschließen - in jenen italienischen Dörfern hatte es damit zu tun, ob es Land zu kaufen gab oder nicht. Aus verschiedenen Interessen heraus mag der eine mehr der Radikalisierung vor Ort, der andere mehr der Migration das Wort reden. Die Entscheidung, welches der bessere Weg ist, müssen doch aber die Menschen selbst entscheiden dürfen.
 

2. Transnationale Migrationsbewegungen

Bis zum 1. Weltkrieg blieb das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der "proletarischen Massenmigration" (Ferenczi, 1969); dagegen ist das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Flüchtlinge. Dies nicht, weil sich die MigrantInnen, ihre Fluchtgründe oder ihre Aspirationen geändert hätten, sondern weil ihre Arbeitskraft in den Ankunftsländern nicht mehr nachgefragt wurde. Parallel zur jeweils nationalen und staatlichen Organisation der Arbeitsmärkte entstand das sogenannte Flüchtlingsproblem der 30er Jahre, das viele Parallelen zur Situation im heutigen Europa aufweist (Jungfer, 1993), nur daß die BRD derzeit nicht zu den Herkunfts-, sondern zu den Zielländern gehört. Im Medium der Weltkriege wurde in Europa die nationale Neuordnung der Bevölkerungen durchgesetzt, und die klassischen Routen der Ost-West-Migration wurden durch den Eisernen Vorgang abgeschnitten.

Im nachnazistischen Europa wurde so die im Krieg geschaffenee Bevölkerungsstruktur bis in die heutige Zeit aufrechterhalten - die großen Migrationsbewegungen der Nachkriegszeit fanden in anderen Regionen der Welt statt: in den drei Kontinenten, wo die Menschen auf vielerlei Weise ausgehungert und vom Land vertrieben wurden. Aber auch diese Migration vom Land in die großen Städte, deren Ausmaß schon in den 70er Jahren auf 500 Millionen geschätzt wurde, war nicht nur Flucht, sondern sie trug zugleich massenhafte Aspirationen in sich: die Forderung nach Nahrung, Wasser, Strom und Schulbildung für die Kinder, das, was die Entwicklungssoziologen der 60er Jahre "Revolution der Erwartungen" nannte.

Allen beteiligten Agenturen, den politischen und den Wirtschaftsgremien wurde rasch klar, daß diese Welle der Aspirationen sich niemals würde einfangen und in Schritte einer geordneten ökonomischen und politischen Entwicklung würde umsetzen lassen. Dazu waren die Menschen zu viele und ihre Erwartungen waren zu groß. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Natürlich gibt es keine Überbevölkerung im Sinne zu vieler Menschen. Überbevölkerung sind im Kapitalismus die Esser, die nicht arbeiten (MEW 23, 23. Kapitel). Ihre Zahl ist höher als die Zahl, die ein kapitalistisches Entwicklungsmodell einbinden kann. Sie sind die lebendige Antithese zum Kapitalismus.

Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, daß wesentliche Charakteristika der imperialistischen Weltpolitik, die Krisenpolitik der 70er Jahre, den Low Intensity Warfare der 80er Jahre und die Neue Weltordnung der 90er Jahre in ihrem Kern der Abwehr dieser massenhaften Aspirationen dienten, einer Abwehr dieser im Aufbruch befindlichen Menschen, einer Strategie der Kapitalakkumulation ohne soziale Entwicklung. Die Schuldenkrise setzte einen globalen Cash Nexus durch, welcher in der Peripherie zur Verwertung oder Inwertsetzung und damit Enteignung traditioneller Überlebensressourcen führte, eine globale Politik der Einhegungen und der Vertreibung. Die inszenierten Katastrophen, die langen Märsche in die Flüchtlingslager, die meist abgeschieden in den ärmsten Ländern lagen und die den UNHCR überfordern mußten, die Angriffe durch marodierende Banden und durch Truppen regionaler Warlords wurden zu Stationen der Triage, in denen die Kinder und die Alten starben, die Frauen hungerten (drei Viertel der Flüchtlinge weltweit sind Frauen!), während sich die Männer auf fernen Arbeitsmärkten oder im Geschäft des Kriegs und der Plünderung auf die Suche nach Einkommen machten.
 
 

Ich komme zu meiner zweiten These: Ob jemand Flüchtling ist oder einfach MigrantIn, hängt weniger mit den Gründen der Emigration zusammen als mit den Modalitäten der Aufnahme und der Statuszuschreibung im Ankunftsland - wenn denn die MigrantInnen überhaupt ins Land ihrer Wünsche gelangen. Kommt eine Integration gelegen oder wird Flüchtlingsarbeit bei Lagerhaltung gewünscht? Oder ist der Arbeitsmarkt gesättigt und es geht nur darum, die Flüchtlinge außer Landes zu halten? In diesem Sinne wurden die 80er und 90er Jahre jeweils zum "Jahrzehnt der Flüchtlinge", und dieses Jahrhundert wird als das Jahrhundert der Flüchtlinge erinnert werden: das Jahrhundert der "Politics of Displacement" (Newland, 1981 und 1986), der Mobilisierung von Menschen, die niemand aufnehmen wollte und die von allen, die an den Hebeln der Macht saßen, für gänzlich überflüssig gehalten wurden.

Weniger als 5% dieser Flüchtlinge weltweit erreichen Europa: zunehmend unerwüschte Flüchtlinge, die am besten in Lagern am Ort ihres Elends gehalten werden sollten, eingekreist durch Kriegszonen, Minenfelder, Killing Fields, eingepfercht in den Safe Havens, die sich so leicht in Todeslager verwandelten. Die Beispiele - Kurdistan, Bosnien, Zentralostafrika - sind uns allen noch frisch in Erinnerung.

"Von allen Faktoren, die 90% der Flüchtlinge weit von den Grnezen der kapitalistischen Metropolen entfernt halten, gehören Grenzregime und Ausländerrecht zu den vergleichsweise drittrangigen" (AK 338, 13.1.92, S.5) - dies sollten stets mitbedenken, wenn wir uns im Weiteren der Situation hier vor Ort zuwenden.
 

3. Deutschland: Rassismus und Migration

Entscheidend für die Entstehung und die Ziele von Migrationssbewegungen sind nicht Pull- und Pushfaktoren, wie sie in der klassischen Literatur zur Migration beschrieben und berechnet werden, sondern entscheidend sind Zuzugsbegrenzungen und Abschiebungen, von denen in der Literatur viel weniger die Rede ist. Ob jemand MigrantIn ist oder Flüchtling, darüber entscheiden nicht die Gründe für die Emigration, sondern die Aufnahme im Zielland: Zugangskontrollen und Statuszuschreibungen. Michael Marrus (1985), der über die Flüchtlinge im Europa dieses Jahrhunderts das meines Wissens stärkste Buch geschrieben hat unter dem Titel "The Unwanted", hat den Satz geschrieben: "Refugees, one might argue, always arrive at the wrong time". Flüchtlinge kommen immer zur falschen Zeit, denn kämen sie zur rechten Zeit, wären sie keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsimmigranten und Immigrantinnen.

Meine dritte These, mit der ich auf Deutschland und die Festung Europa zu sprechen kommen möchte, übernehme ich von dem US-amerikanischen Migrationsforscher Zolberg. Sie lautet:

Rassismus sollte im Rahmen der Migrationspolitik diskutiert werden als eine zweckvolle Organisation von Vorurteilen hin zu einer Ideologie, auf deren Basis spezifische politische Ziele durchgesetzt werden können (Zolberg 1978).

Der deutsche Rassismus ist Antisemitismus. Der Antisemitismus ist natürlich nicht auf die Abwehr von Flüchtlingsbewegungen zu reduzieren - das ist banal, aber ich sage es, weil  schon einmal unterstellt worden ist, ich wolle genau dies tun und damit das Spezifische des deutschen Antisemitismus zum Verschwinden bringen. Das will ich nicht - die Einmaligkeit des Holocaust und die Schuld der Deutschen am Holocaust bleibt davon unberührt. Aber wir müssen uns davor hüten, aus dieser Einmaligkeit ein Tabu zu machen, welches das heutige Deutschland vor unbequemen Wahrheiten schützt. Es ist, glaube ich, viel zu wenig bekannt, daß sich der deutsche Antisemitismus, eben jener eliminatorische Antisemitismus, den Goldhagen beschreibt und der nach Auschwitz führte, radikalisiert hat an der Abwehr jüdischer Flüchtlinge.

Das Zusammenspiel von antisemitischer Agitation gegen ostjüdische MigrantInnen und staatlicher Diskriminierungspolitik war ein entscheidendes Merkmal des modernen Antisemitismus in Deutschland (Aschheim 1982, Wertheimer 1987). Die Flüchtlinge damals waren vom ?ußeren her fremd, sie sprachen jiddisch, sie trugen Kaftan und Schläfenlocken, waren erschöpft und schäbig gekleidet. Sie bevölkerten die Straßen und Plätze der Hauptstädte, die Bahnhöfe und Hafenstädte; sie prägten das Straßenbild mit ihrer fremden Erscheinung ähnlich wie die Roma auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz.

Diese ostjüdische Massenarmut, die nach 1881 zu hunderttausenden vor Hunger und Pogromen aus Zentralosteuropa floh, - durch das Reichsgebiet reisten in den Jahren um die Jahrhundertwende 100 000 Personen pro Jahr - bildete jenes "unerwünschte Element", so Bismarck, gegen das sich die Deportationspolitik des wilhelminischen Staats und die antisemitische Hetze gleichermaßen richtete. Die Ostjuden wurden beschuldigt, Teil eines Destabilisierungsmanövers des Zaren zu sein, in Hamburg wurden sie für den Ausbruch der Cholera verantwortlich gemacht. In jedem Jahrzehnt der Kaiserzeit veranstaltete Preußen Massendeportationen, in denen ausländische Juden eingefangen und abgeschoben wurden; bis zur Jahrhundertwende waren es mindestens 14 000. Durch diese Deportationen wurden die Juden aus Osteuropa als Manövriermasse staatlicher Maßnahmen stigmatisiert und dadurch um so mehr den Antisemiten als Aggressionsobjekt freigegeben. Die rassistischen Stereotype, mit denen die Flüchtlinge damals belegt wurden, gleichen denen bis ins Detail, mit denen auch heute gelegentlich unerwünschte ImmigrantInnen belegt werden.

Die Niederlage im 1. Weltkrieg mündete in eine weitere Welle des Antisemitismus. Es befanden sich zu dieser Zeit etwa 150 000 Ostjuden im Reich - eine lächerlich geringe Anzahl, aber hinter jeden dieser Juden vermutete man fünfzig weitere, die nur auf eine Gelegenheit warteten, illegal einzureisen, und zahllose Immigranten kamen auch tatsächlich illegal über die deutsche Ostgrenze. Bis 1923 kam es in Oberschlesien, Berlin, München, Düsseldorf und anderen Städten wiederholt zu Internierungen in Militärlagern und zu Abschiebungen. Die "schleunige Ausweisung einiger besonders übler östlicher Zuwanderer" wurde "zur Hebung der öffentlichen Stimmung" empfohlen (Maurer 1986). Und tatsächlich wurden 1920 zwei mit dem Terminus "Konzentrationslager" belegte Internierungslager geöffnet, in den Orten Stargard und Cottbus. Und wieder funktionierte das Zusammenspiel von staatlichen Maßnahmen und Rassismus in der deutschen Bevölkerung: Erst die Lager, dann die Pogrome: Im Oktober und im November 1923, als die Konzentrationslager Stargard und Cottbus aus Kostengründen schon wieder geschlossen waren, kam es mit den Rufen "Schlagt die Juden tot" zu antisemitischen Ausschreitungen gegen "die Galizier" in Berlin, Beuthen, Breslau, Königsberg, Erfurt, Coburg, Nürnberg, Oldenburg und Bremen.
 
 

4. Die neuen Feindbilder

Ich möchte von diesem Feindbild "die Galizier" einen Sprung machen zu den heutigen Feindbildern. Zu dem Feindlind Roma, dem Feindbild Asylant und dem Feindbild Illegaler. Auch heute dienen diese rassistischen Feindbilder der Durchsetzung bestimmter politischer Ziele.

Das Feindbild Roma: Nach dem Fall des eisernen Vorhangs retteten sich zahlreiche Sinti und Roma vor den neu ausbrechenden nationalistischen Ordnungsversuchen aus Südosteuropa in den Westen, ganz ähnlich, wie sich 70 Jahre vorher die Ostjuden vor der nationalistischen Neuordnung in Zentralosteuropa mit den dazugehörigen Diskriminierungen und Pogromen in den in den Westen gerettet haben. Sie wurden sofort mit nahezu den gleichen Stereotypen belegt wie in den 20er Jahren die Ostjuden und sie wurden zum ersten Angriffspunkt der europaweiten Flüchtlingspolitik in den frühen 90er Jahren. Über die Stationen der europäischen Flüchtlingspolitik - von Schengen 1985 über Maastricht 1993 nach Dublin 1997 - möchte ich hier nicht weiter berichten. Es sind die Stationen der EG-weiten Verallgemeinerung der hautsächlich aus Deutschland stammenden Abwehrstrategien gegen Flüchtlinge. Die Blockierung der Reisewege und die Rückschiebung der Roma - ich erinnere nur an die Konferenz von Budapest 1993, auf der Europa nach Herkunfts-, Transit- und Zielländern klassifiziert wurde, wobei alle beteiligten Länder zu "sicheren Drittstaaten erklärt wurden und die Grundlagen für eine internationale Polizeizusammenarbeit gelegt wurden, und an den Rücknahmevertrag mit Rumänien, der 1992 unmittelbar nach den Pogromen von Lichtenhagen abgeschlossen wurde und der dazu führte, daß die Sinti und Roma seither ein Strom ständiger Abschiebungen ausgesetzt sind, der inzwischen offenbar so sehr zum Alltag geworden ist, daß kaum jemand überhaupt noch darüber redet.
Auch den Export von Grenzregimes gen Osten möchte ich jetzt nicht weiter ausführen, sondern hierzu auf die Schriften der FFM verweisen, die die Recherche in osteuropäischen Transitländern zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht hat (FFM 1995, 1996, 1997). Das Lohnverhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Ukraine oder Belarus beträgt auf einer Gefällestrecke von nur 700 km rund 100:1 und eine zunehmende Aufrüstung der Grenzregimes ist erforderlich, um dieses Gefälle aufrechtzuhalten.

Feindbild Asylant: dieses Feindbild entstand Anfang der 80er Jahre, nachdem das Asylrecht seit dem Anwerbestopp vom 1973 und der Einengung des Familiennachzugs 1980 in der BRD zum Nadelör der Immigration geworden war, und nachdem eine kleine Minderzahl von Flüchtlingen aus den großen weltweiten Flüchtlingsbewegungen - Chilenen, Tamilen, Iraner, Kurden, Libanesen, ?thiopier, Afghaner und Ghanaer - den Weg nach Westeuropa gefunden hatten. Bei diesem Feindbild ging es Entgarantierung des sozialrechtlichen Status der Flüchtlinge. Die Stichworte sind: Beschleunigungsgesetze zum Asylverfahren 1978 und 1980, Visumzwang, Arbeitsverbot, Lager, Abschiebungen, Ausländerzentralregister, ?nderung des Sozialhilfegesetzes und Asylverfahrensgesetz 1982: das Resultat: Absenkung der Anerkennungsquote auf unter 5%, Abdrängung der Flüchtlinge aus der sozialen Sicherung in den illegalen Arbeitsmarkt. Die derzeit von Berlin ausgehende Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes, in der es darum geht, den geduldeten Flüchtlingen das Recht auf Sozialhilfe abzuerkennen, bildet den vorläufigen Schlußpunkt dieser Linie. Dieses Gesetz wird vor allem die Kriegsflüchtlinge aus Bosnien treffen. Es wäre das erste Mal, daß eine Gruppe von Menschen offen aus dem Sozialsystem ausgegrenzt wird.

Feindbild Illegaler: Ich denke, die Aufrüstung der Ostgrenzen, die Kontrollen, das Schengen-Informationssystem, die Dritte Säule von Maastricht bis hin zum CIREFI sind den meisten hier hier bekannt - ich verweise auf das letzte Heft von Off Limits, auf den Reader zur Fluchthilfe, den die Kampagne kein Mensch ist illegal gerade herausgegeben hat, und auf die Schriftenreihe des FFM. Die MigrantInnen haben nur noch Chancen, wenn sie sich in Zusammenhängen bewegen können, in denen sie von der Fluchthilfe bis zur Organisation des illegalen Lebens in der Metropole auf vorbereitete Strukturen treffen, auf die sie sich stützen können. Derartige Strukturen gibt es bei bestimmten Ethnien und begünstigten Communities, zum Teil unter Kontrolle politischer Strukturen, zum Teil in der Hand von kommerziell orientierten Organsiationen. Diese letzteren fungieren, indem sie die Höhe der Fluchtgelder an den erwarteten Einkünften der Immigranten orientieren, als Zulieferer und Regulatoren des illegalen Arbeitsmarkts. Sie sind ein Faktor der Selektion der MigrantInnen nach ihrer Herkunft und Verwertbarkeit, und ihnen dieses Feld zu überlassen, bedeutet, die Migrantion auf ihre Funktion für die illegalen Arbeitsmärkten zu reduzieren. Den Frauen, die nicht Prostituierte oder Hausdienerin werden wollen, den Kindern, den Armen und den minoritären Ethnien stehen diese Strukturen ja nicht zur Verfügung. Bei alledem ging es bislang nicht wirklich darum, die Grenzen völlig zu schließen. Es gibt ja keinen Zweifel daran, daß illegale Arbeit im Europa der 90er Jahre eine zentrale Rolle spielt - nicht nur im Dienstleistungssektor, der leichter wahrgenommen wird, sondern auch, weniger sichtbar, in der dezentralen industriellen Produktion, im Transportbereich und in der Landwirtschaft (Sivanandan 1992).  Allerdings könnte der Bedarf an billigen Arbeitskräften mit Ausweitung der EU vielleicht auch innerhalb der Festung Europa gedeckt werden.
 

5. Die neue Sicherheitspolitik

Der BGS verlegt zur Zeit den Schwerpunkt seiner Arbeit von der technischen Aufrüstung an der Grenze selbst hin zu einem Denunziationsbündnis mit der grenznahen Bevölkerung (Dietrich 1998). Darauf möchte ich in meiner 4. These eingehen, eine These über die zentrale Stellung des Sicherheitsdiskurses in der Flüchtlingspolitik. Indem die Grenzsicherung von einer grenzpolizeilichen Aufgabe zunehmend zur Aufgabe der kommunalen Behörden, einiger Wirtschaftsbetriebe und der gesamten Grenzbevölkerung umdefiniert wird, zielt es auf gesellschaftliche Wirkung und wird zur Metapher, vielleicht auch zum Modell einer neuen Gesellschaftsordnung. Der gesellschaftliche Kontext wird immer weniger durch staatliche Sozialleistungen und garantierte Beschäftigungsverhältnisse gesichert. 5 Millionen Arbeitslose und noch mehr Arme - die postkeynesianische Gesellschaft braucht ein neues politisches System. Dabei könnte sich der Diskurs der Sicherheit als rationaler und wirksamer erweisen als die plumperen neonationalistischen Modelle, wirksam auch in den Gesellschaftsschichten, die sich in Lifestiles und nicht nach nationalen Kritereien definieren, die aber feststellen, daß sie durchaus etwas zu verlieren haben, und deshalb ein Bedürfnis nach Sicherheit entwickeln.

Die Behandlung "der Illegalen" als Sicherheitsproblem entspricht der Tatsache, daß die Situation der Flüchtlinge auch im Innern der Festung und trotz aller Sicherungssysteme unüberschaubar geworden ist. Der Kampf ist noch nicht entschieden, die Situation ist offen. Die MigrantInnen artikulieren sich - die Sans Papiers in Frankreich, und jetzt auch hier im Köln. Die UnterstützerInnen haben Zulauf - die Kampagne Kein Mensch ist Illegal weitet sich aus. Die Situation ist noch offen: vielleicht steht am Ende dieses Jahrhunderts nicht die Festung Europa, sondern der Sturm auf die Festung und eine Neuzusammensetzung der Gesellschaft, in der auch die MigrantInnen sich das Recht auf Freizügigkeit und ein Leben in Würde erkämpfen.
 

Nochmal die Thesen:

1. Weil die MigrantInnen, die aus der Peripherie in die industriellen Zentren kommen, das Prinzip der gegenwärtigen Weltordnung, das Prinzip des freien Kapitalverkehrs bei begrenzter Freizügigkeit der Menschen, durchkreuzen, bilden sie eine soziale Bewegung, welche die realen Zustände real aufhebt.

2. Ob jemand Flüchtling ist oder einfach MigrantIn, hängt weniger mit den Gründen der Emigration zusammen als mit den Modalitäten der Aufnahme und der Statuszuschreibung im Ankunftsland.

3. Rassismus sollte im Rahmen der Migrationspolitik diskutiert werden als eine zweckvolle Organisation von Vorurteilen hin zu einer Ideologie, auf deren Basis spezifische politische Ziele durchgesetzt werden können (Zolberg 1978).

4. Indem die Grenzsicherung von einer grenzpolizeilichen Aufgabe zunehmend zur Aufgabe der kommunalen Behörden, einiger Wirtschaftsbetriebe und der gesamten Grenzbevölkerung umdefiniert wird, zielt es auf gesellschaftliche Wirkung und wird zur Metapher, vielleicht auch zum Modell einer neuen Gesellschaftsordnung.
 
 
 

Literatur:

S. Aschheim, 1982, Brothers and Strangers, The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison: University of Wisconsin Press

H .Dietrich, 1998, Feindbild "Illegale". Eine Skizze zu Sozialtechnik und Grenzregime, Berlin: unveröff.MS

J.S. McDonald, 1963, Agricultural Organusation, Migration, and Labour Militancy in Rural Italy, 1902-13, Economic History Review 16

Imre Ferenczi, 1969, Proletarian Mass Migration, in: W.F. Wilcox (Ed), International Migrations, New York: Reprint Gordon and Breach, Vol.1, S. 81-88

FFM, 1995, Polen. Vor den Toren der Festung Europa, Berlin und Göttingen: Schwarze Risse; 1996, Rumänien. Vor den Toren der Festung Europa und 1997, Ukraine. Vor den Toren der Festung Europa. Die Vorverlagerun der Abschottungspolitik, jeweils im selben Verlag.

E. Jungfer, 1993, Flüchtlingsbewegungen und Rassismus. Die Nation der Minderheiten und das Volk der Staatenlosen, Frankfurt: medico report 19

M. Marrus, 1985, The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century, New York: Oxford University Press

A. Sivanandan, 1992, Rassismus 1992, in: From Resistance to Rebellion. Texte zur Rassismusdiskussion, Berlin uund Göttingen: Schwarze Risse, S.147-154

T.Maurer, 1986, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg: Christians Verlag

C. Newland, 1981, Refugees: The New International Politics of Displacement, Worldwatch Paper 43, und 1986, Refugees: The Dynamics of Displacement, London: Zed Books

Charles Tilly, 1978, Migration in Modern European History, in: William H. McNeill and Ruth S. Adams, Human Migration. Patterns and Policies, Bloomington: Indiana University Press, S.49-72

J. Wertheimer, 1987, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York: Oxford University Press

A.R. Zolberg, Migration Politics in a World System, in: Human Migration, op.cit. S.246-281