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"Materialien für einen neuen Antiimperialismus".  Arbeitspapier

 Migration und Rassismus


Zur Rassismusdiskussion drei Thematisierungen, die für unsere Diskussion wichtig sein  können:

- der differentielle Rassismus:  Zusammenhang von gesellschaftlicher Umstrukturierung und Verteidigung des sozialen Status. (Siehe Materialien Nr. 5: Thesen zur Rassismusdebatte, Berlin 1993)

- der Bezug auf antirassistische Migrantinnenkämpfe, so vor allem in GB und den USA - so weit sind wir hier noch nicht. Trotzdem: der Widerstand der Migrantinnen selbst steht im Zentrum jeder antirassistischen Perspektive.

- die Untersuchung des Zusammenhangs von Rassismus und Migration (Aristide Zolberg, Robert Miles). An diesem Punkt möchte auch ich ansetzen.

Im Folgenden also historische Anmerkungen zur Entstehung des Antisemitismus in Deutschland und zu den Flüchtlingsbewegungen der Zwischenkriegszeit. Dann ein Überblick über die jüngsten europäischen Migrationsbewegungen (im Einzelnen ist das bekannt, aber in der Zusammenschau wird die Größenordnung dessen, was läuft, deutlich).

Ein erster mir wichtig erscheinender Punkt betrifft die Aktualität des Antisemitismus. In der angelsächsischen Migrationsforschung wird von Autoren wie Aristide Zolberg oder Robert Miles schon seit Ende der 70er Jahre darauf verwiesen, daß zwischen dem in einer Gesellschaft verbreiteten Rassismus und der staatlichen Migrationspolitik ein enger Zusammenhang besteht. Es hat sich als erhellend erwiesen, diesen Zusammenhang auch hinsichtlich der ostjüdischen Migrationsbewegungen seit den 1880er Jahren zu untersuchen, wie dies zum Beispiel für das Deutsche Reich Steven Aschheim und Jack Wertheimer getan haben. Sie haben nachgewiesen, daß das Zusammenspiel von antisemitischer Agitation gegen ostjüdische MigrantInnen und staatlicher Diskriminierungspolitik ein entscheidendes Merkmal des modernen Antisemitismus war. Diese jüdischen MigrantInnen waren vom Äußeren her fremd, sie sprachen jiddisch, trugen Kaftan und Schläfenlocken, waren erschöpft und von Armut geschlagen. Sie bevölkerten die Straßen und Plätze der Hauptstädte, die Eisenbahnknotenpunkte und Hafenstädte; sie prägten das Straßenbild mit ihrer fremden Erscheinung ähnlich wie die Roma auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz heute.
Diese  ostjüdische Massenarmut, die nach 1881 zu hunderttausenden vor Hunger und Pogromen aus Zentralosteuropa floh, - durch das Reichsgebiet reisten in den Jahren um die Jahrhundertwende 100 000 pro Jahr - bildete jenes "unerwünschte Element", so Bismarck, gegen das sich die Deportationspolitik des wilhelminischen Staats und die antisemitische Hetze gleichermaßen richtete. In jedem Jahrzehnt der Kaiserzeit veranstaltete Preußen Massendeportationen, in denen ausländische Juden eingefangen und abgeschoben wurden; bis zur Jahrhundertwende mindestens 14 000. Die rassistischen Stereotype, mit denen die Flüchtlinge damals belegt wurden, gleichen denen bis ins Detail, mit denen heute zuerst die Italiener, später die Türken und zuletzt die Roma und Sinti belegt wurden.

Die Ostjuden wurden damit zu einer negativen Schablone für die völkische Formierung der deutschen Gesellschaft, für das, was Hannah Arendt "völkische Selbstbestimmung" genannt hat. Damit soll gesagt sein, daß die Definition und Ausgrenzung des Fremden für die Formierung einer produktiven deutschen Gesellschaftlichkeit eine konstitutive Rolle gespielt hat. Die nationale Formierung der Arbeiterklasse wäre ohne den Rassismus und ohne den 1. Weltkrieg gar nicht denkbar gewesen, und sie setzte sich dann im NS fort nicht nur als Klassenkrieg von oben, sondern eben auch als eine Form der "Selbstbestimmung".

In den gängigen Schriften über den Antisemitismus kommt viel zu wenig zum Ausdruck, daß bei der Herausbildung des Antisemitismus die staatliche Flüchtlingspolitik eine Rolle gespielt hat, die mindestens genauso wichtig ist wie die Agitation der antisemitischen Hetzer und wie die faschistischen Bewegungen. Es ist wichtig, dies auch in Hinblick auf die heutige Flüchtlingspolitik in Deutschland und in Europa in Erinnerung zu behalten. Aber ist diese historische Erfahrung auf die heutige Zeit übertragbar? Ich möchte diese Frage der anschließenden Diskussion überlassen und zunächst nur auf einen wichtigen Unterschied verweisen: der Antisemitismus damals enthielt nicht nur eine Drohung, sondern auch eine Perspektive der produktiven nationalen Integration; eine solche Perspektive steht heute nicht zu Gebot; wir haben heute nicht einen Rassismus der Integration, sondern einen Rassismus der sozialen Differenzierung vor uns, und die unteren Schichten der Bevölkerung können sich von den neofaschistischen Bewegungen ein soziales Upgrading eigentlich nicht versprechen.

Ich möchte hier fortfahren mit einigen Anmerkungen zu den Flüchtlingsbewegungen der Zwischenkriegszeit. Ich glaube, es ist wichtig, sich mit diesem Thema zu befassen, denn diese Migration entstand vor dem Hintergrund einer nationalen Formierung der produktiven Klassen in Zentraleuropa, also einer Konstellation, wie wir sie heute in vergleichbarer Weise wieder vorfinden. Die damalige Migration brach sich dann an der Kontraktion der Arbeitsmärkte in der Weltwirtschaftskrise. Michael Marrus, der zu diesem Thema das meines Wissens stärkste Buch geschrieben hat unter dem Titel "The Unwanted", hat den Satz geschrieben: "Refugees, one might argue, always arrive at the wrong time". Flüchtlinge kommen immer zur falschen Zeit, denn kämen sie zur rechten Zeit, wären sie keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsimmigranten und Immigrantinnen.
Nach dem ersten Weltkrieg entstanden in Zentralost- und Südosteuropa aus dem Zerfall der Habsburger Monarchie eine Reihe von Nationalstaaten, und weil sich die dortigen Eliten bemühten, nationale Ökonomien nach völkischem Muster zu installieren, gerieten die Minderheiten, und namentlich die jüdische Minderheit, zunehmend unter den Druck der sog. "kalten Pogrome", des wirtschaftlichen Boykotts und der staatlichen Benachteiligung. Während der Druck zur Emigration stieg, wurde es immer schwieriger, ein Zielland der Migration zu finden. Ab den frühen 20er Jahren wurde auch in den USA die Immigration kontingentiert. Frankreich übernahm für einige Jahre die Rolle als Hauptzielland der Migration, jedenfalls bis 1931.

In der Zeit der Weltwirtschaftskrise aber schlossen alle westlichen Industriestaaten ihre Grenzen. Hunger und Elend stauten sich in Ost- und Südosteuropa zurück. Und auch die Flüchtlinge aus Nazideutschland, jedenfalls die ärmeren Flüchtlinge nach 1935, standen vor verschlossenen Türen, denn "hinter den Flüchtlingen des Faschismus standen hunderttausende von weiteren Anwärtern, hauptsächlich osteuropäische Juden, die niemand durch eine großzügige Asylpolitik ermutigen wollte" (Marrus). Das Jahr 1938 dann war das Krisenjahr der Flüchtlingspolitik: das Jahr der spanischen Flüchtlinge in Frankreich, das Jahr, in dem die Eichmann-Behörde nach dem Einmarsch in Wien Juden bei Nacht und Nebel über die Grenzen abschob, das Jahr, in dem 18000 Juden auf einmal aus Deutschland nach Polen abgeschoben wurden, und Polen wollte sie nicht aufnehmen, so daß tausende im Niemandsland zu Polen in Lagern festgehalten wurden, das Jahr, in dem sich auf der Evian-Konferenz bestätigte, daß die Judenfrage als unlösbar gelten mußte, weil es kein Land gab, das bereit gewesen wäre, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen.

In dieser Situation wurde die Flüchtlingsfrage, und das war damals die Judenfrage, zu einem Schrittmacher der europäischen Einigung, noch bevor Hitlers Armeen marschierten und den Großraum auf deutsche Art gründeten. Ich sage es mit den Worten von Hannah Arendt:
"Man verschlechterte die Situation der Staatenlosen willentlich, um Abschreckungsmaßnahmen zu schaffen, wobei manche Regierungen so weit gingen, jeden Flüchtling kurzerhand als 'lästigen Ausländer' zu bezeichnen und ihre Polizei anzuweisen, sie dementsprechend zu behandeln. Inwieweit diese Abschreckungsmaßnahmen effektiv waren, ist schwer abzuschätzen. In den letzten Jahren vor Kriegsbeginn hatten die Polizeien der westlichen Länder alle Übersicht über die Ausländer verloren,weil die Flüchtlinge sich in die Illegalität gerettet hatten..." Die Staatenlosen wurden nun bei "Nacht und Nebel" in einem Kleinkrieg der Polizeien benachbarter Länder über die Grenzen geschmuggelt. Da die Polizei im Umgang mit den Staatenlosen außerhalb der Legalität handelte, wuchs ihr Machtbereich außerordentlich und es entwickelte sich "in den nichttotalitären Ländern eine Form polizeilich organisierter Gesetzlosigkeit, welche auf die friedlichste Weise der Welt die freien Länder den totalitär regierten Staaten anglich". Schließlich waren in allen Ländern für die gleichen Gruppen Konzentrationslager vorgesehen, wenn auch die Behandlung in ihnen natürlich sehr differierte. Lange vor Ausbruch des Krieges hatte "eine Reihe von westlichen Polizeien unter dem Vorwand der 'nationalen Sicherheit' auf eigene Faust enge Verbindungen mit der Gestapo und mit der GPU etabliert, so daß man bereits von einer unabhängigen Außenpolitik der Polizei sprechen konnte".

Von dieser internationalen Polizeizusammenarbeit vor dem Krieg ist es kein so sehr großer Sprung zur sog."dritten Säule von Maastricht", also der Zusammenarbeit der Innen- und Justizminister der europäischen Union, zum Vertrag von Schengen und zur Erweiterung der Europäischen Union. Denn wieder hat die Kontrolle der Migration für die westeuropäischen Kernstaaten höchste Priorität, und wieder ist sie ein Schrittmacher im europäischen Einigungsprozeß.

Für die assoziationswilligen Länder, von Finnland über Polen und die Tschechische Republik bis nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowenien und Kroatien ist nach dem Fall des eisernen Vorhangs die Kooperation bei der Schaffung eines Cordon sanitaire gegen die Immigration aus dem Osten und dem Südosten Europas zur ersten Nagelprobe gemacht worden. Auf der Konferenz von Budapest im Februar 93 wurde Europa nach Herkunfts-, Transit- und Zielländern der europäischen Binnenmigration klassifiziert und die beteiligten Länder wurden allesamt zu "verfolgungssicheren Drittstaaten" erklärt. Zugleich wurden die Grundlagen für eine internationale polizeiliche Zusammenarbeit geschaffen; die zwölf Innenminister der TREVI-Gruppe hatten schon im November zuvor ein einheitliches Vorgehen gegen die Flüchtlinge vereinbart.

In alter Tradition wurde Polen zum Modell und Einfallstor dieser Politik; es kursiert das Schlagwort vom "Asylprotektorat". Um den Preis der Befreiung der PolInnen von der Visumspflicht im Westen hatte Polen bereits im Frühjahr 91 ein Rückübernahmeabkommen mit den Schengen-Staaten unterzeichnet. Seither waren etwa 40 000 Menschen durch Polen in die BRD immigriert. Unter dem Druck, daß diese 40 000 auf einen Schlag zurückgeschoben werden könnten, bekräftige Polen die Rücknahme von Flüchtlingen aus der BRD im Mai 93 als bilaterales Abkommen; im Gegenzug wurden ihm 120 Millionen DM zugesagt, die vor allem dazu verwendet werden sollten, die polnischen Grenzen technisch aufzurüsten. Die Abschiebung jener 40 000 Menschen nach Polen wurde ausgesetzt. Bereits im Vorfeld dieses Vertrags hatte Polen die Visumpflicht für die Staaten der ehemaligen SU wiedereingeführt, ein Devisenminimum für Einreisende aus Rumänien festgesetzt und die militärische Überwachung an seiner Ostgrenze intensiviert. Außerdem waren auf der Prager Konferenz der Transitstaaten im März 93 Verhandlungen über Rücknahmeabkommen zwischen Österreich, Ungarn, Slowenien, sowie der Tschechischen und Slowakischen Republik beschlossen worden. Mehreren dieser Staaten wurden Kompensationen in Form von Ausbildungs- und Ausrüstungshilfen für die Polizeien zugesagt.

Die Beschäftigung mit der Flüchtlingsfrage hat uns im Lauf der letzten 10 Jahre immer wieder deutlich gemacht, daß Migrationsprozesse einer doppelten Deutung bedürfen: einerseits als Mobilisierung von Arbeitskraft, andererseits aber und zugleich als eine Form sozialer Bewegung, als Abstimmung mit den Füßen oder als Flucht vor unaushaltbaren Zuständen. In den 80er Jahren wollte uns scheinen, als würden die Migranten aus Asien und Afrika den Kernkonflikt des Imperialismus - die Schaffung und Regulation einer "Überbevölkerung" - in die Metropolen zurücktragen, sie erschienen uns als Vorboten eines mobilisierten Weltproletariats.

Heute müßte einiges anders formuliert werden. Zum einen wurde die Immigration aus den drei Kontinenten zunehmend durch eine neuerliche europäische Binnenmigration überlagert, zum anderen ist die soziale und geschlechtsspezifische Selektivität der Migration zunehmend ins Blickfeld geraten. Die Neuordnung Europas unter dem Auspiz der Abwehr unerwünschter Migration und die Aufrüstung der Grenzen geht nicht nur hierzulande einher mit einer offen sozialrassistischen Reformulierung der sozialen Werte. Sich heute um die Flüchtlingsfrage zu kümmern, bedeutet deshalb nicht nur, konkret für die MigrantInnen einzustehen und ihre Präsenz perspektivisch mit der hiesigen sozialen Konfliktualität zu vermitteln, sondern bedeutet von vornherein Konfrontation mit der sozialrassistischen Reorganisation der metropolitanen Gesellschaft. Daß die Fluchthilfe als Organisationsverbrechen die terroristische Vereinigung zu beerben scheint, ist nur ein vorweggenommenes Symptom künftiger Konflikte.

Wenn heute von einem Flüchtlingsproblem die Rede ist, so ist es wichtig, sich klar zu machen, daß weit weniger als 5% der weltweiten Flüchtlinge, deren Zahl inzwischen bei 20 Millionen liegt, die europ. Kernstaaten überhaupt erreichen. Das sind die offiziellen Zahlen; die Zahl der durch Kriege, Katastrophen und Hunger entwurzelten Menschen wird derzeit auf mehr als 100 Millionen Menschen geschätzt, die Hälfte von ihnen Frauen, und bei dieser Rechnung kommen weit weniger als 1 % hier an. Dabei spielen die Grenzkontrollen eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle; wichtiger sind die Transportkosten, die Politik der Regionalisierung von Flüchtlingsbewegungen, das Containment der Kriegszonen durch Minengürtel und, seit dem Golfkrieg, das Konzept der sogenannten Schutzzonen. Wenn also von 1 Millionen Immigranten in die BRD die Rede war, das ist die Zahl von 1992, müssen wir in Erinnerung behalten, daß es sich im wesentlichen um eine europäische Binnenmigration handelt und außerdem, daß dieser Zahl mehr als eine halbe Million statistisch erfaßter Auswanderer gegenüberstehen, von denen absichtsvoll nie die Rede ist.

Allerdings sind inzwischen die trikontinentalen Bedingungen des Flüchtlingselends auch in Europa wieder heimisch geworden. Ich nenne nur den Krieg in Kurdistan und die ethnischen Säuberungen in Bosnien, die sich mit mehr als drei Millionen Flüchtlingen zur ersten Massenvertreibung in Europa nach dem 2.Weltkrieg ausgeweitet haben. Nur die wenigsten Flüchtlinge haben die europäischen Zentren erreicht. Die Flüchtlingskonferenzen des Jahres 1992, insbesondere jene in Genf im Juli 92, auf denen eine Kontingentierung der Flüchtlinge von allen Staaten abgelehnt wurde und stattdessen eine "Hilfe vor Ort" favorisiert wurde, zu deren Umsetzung dann keine Beschlüsse gefaßt werden konnten, erinnern in fataler Weise an die Konferenz von Evian im Juli 1938.

Die Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien haben in der BRD eine Sonderrolle gespielt. Insbesondere gegenüber den Bosniern hat der Staat zwar eine Duldung eingeräumt, er hat diese Gruppe aber zugleich aus den sozialrechtlichen Bezügen herausgelöst und ihre Einreise nur gestattet, wenn andere für ihren Unterhalt bürgten. Das aber entspricht genau den Intentionen der neuen Asylgesetzgebung vom Sommer 93. Denn diese Gesetzgebung zielt nur formal auf eine Verminderung der Flüchtlingszahlen - sie zielt auf eine Verminderung der offiziellen Flüchtlingszahlen. Sie zielt darauf, die Migranten aus den staatlichen Sozialleistungen auszugliedern und sie primär in den illegalen Arbeitsmarkt abzudrängen. Der Zugang soll ihnen nur versperrt werden, soweit ihre Arbeitskraft nicht gefragt ist. Es nimmt nicht Wunder, daß die Regulation der europäischen Binnenmigration nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit dem Deportationsabkommen mit Rumänien im November 92 begann, also daß es gegen die Roma gerichtet war, die in ähnlicher Weise als unverwertbar auf dem Arbeitsmarkt gelten wie vor hundert Jahren die Ostjuden. Seither verläuft die Abschiebung nach Rumänien über den Flughafen Schönefeld praktisch lautlos. Rumänien war auch als Drehscheibe für die Abschiebung von mehr als 100 000 Flüchtlingen aus den ehemaligen Jugoslawien eingeplant, die jedoch aufgeschoben wurde.

Seit der neuen Asylgesetzgebung sind die offiziellen Flüchtlingszahlen in die BRD um etwa 70% gesunken. Ob sich die Zahl der illegalen Flüchtlinge im gleichen Ausmaß geändert hat und in welcher Richtung, weiß niemand genau. Schon vor den neuen Gesetzen sind über 90% der Migranten illegal eingereist und sie wissen nun, daß es zwecklos ist, Asylanträge zu stellen. Die Anerkennungsquote war schon vor der neuen Gesetzgebung auf gut 2 % gesunken. Die Situation der Flüchtlinge ist unüberschaubar geworden. Ihre soziale Entrechtung und die verschärfte Immigrationskontrolle bedingen, daß sie als Einzelne der staatlichen Willkür ausgeliefert und verloren sind. Sie haben nur noch Chancen, wenn sie sich in Zusammenhängen bewegen können, in denen sie von der Fluchthilfe bis zur Organisation des illegalen Lebens in der Metropole auf vorbereitete Strukturen treffen, auf die sie sich stützen können. Derartige Strukturen gibt es bei bestimmten Ethnien und begünstigten Communities, zum Teil unter Kontrolle politischer Strukturen, zum Teil in der Hand von Mafia-ähnlichen Organisationen. Diese letzteren fungieren, indem sie die Höhe der Fluchtgelder an den erwarteten Einkünften der Immigranten orientieren, als Zulieferer und Regulatoren des illegalen Arbeitsmarkts. Sie sind ein Faktor der Selektion der Migranten nach ihrer Herkunft und Verwertbarkeit, und ihnen dieses Feld zu überlassen, bedeutet, die Migration auf die Funktion der "Zugvögel" auf den illegalen Arbeitsmärkten zu reduzieren. Den Frauen aber, die nicht Prostituierte oder Hausdienerin werden wollen, den Kindern, den Armen und den minoritären Ethnien stehen diese Strukturen nicht zur Verfügung. Sie brauchen für ihre Flucht und für ihr Überleben organisatorische und logistische Unterstützung, für eine Übergangszeit, bis sie sich ihr Überleben selbst organisieren werden, wenn ihnen die Bedingungen dafür zugänglich sind.

Ich komme damit auf die Frage zu sprechen, die mir zur Zeit zentral für die antirassistische Diskussion zu sein scheint: die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für den Widerstand und das Überleben der Flüchtlinge.

(siehe zum Widerstand gegen Deportation im NS: Stéphane Courtoise, Denis Peschanski, Adam Rayski: Lí Affiche Rouge. Immigranten und Juden in der französischen Résistance, Berlin: Schwarze Risse, 1994)

Es gibt Beispiele für solche Überlebens- und Kampfzusammenhänge, den Widerstand von Romagruppen gegen die Abschiebung nach Skopje, den Widerstand der Kurden, der in den letzten Wochen Schlagzeilen gemacht hat, und es gibt die BosnierInnen, von denen an die 100 000 in familiären Zusammenhängen untergekommen sind. Und blicken wir über den Atlantik, sind z.B. die 100 000 Chinesen zu nennen, die jährlich illegal in die USA gelangen und in den Chinatowns untertauchen, neben den 10 Millionen illegalen Immigranten, die in den 80er Jahren in den USA geschätzt wurden. Bei diesen Zahlen wird deutlich: Wir stehen in Westeuropa vielleicht erst am Anfang neuer Migrationsbewegungen und damit vor einer Neuzusammensetzung der Gesellschaft von unten her.

Migration ist wahrscheinlich die wichtigste soziale Bewegung gegen die europäische Großraumpolitik.

Ein wesentlicher Faktor dieser Großraumpolitik ist Bevölkerungspolitik - die Regulation der Zusammensetzung der Gesellschaft, und damit auch die Regulation der Migration.

Antirassistische Politik heißt zuerst, diese Regulation zu konterkarieren und das heißt in erster Linie: Hindernisse der Migration auszuräumen und die MigrantInnen hier vor Verfolgung und Abschiebung zu sichern und sie beim Aufbau ihrer eigenen Organisations- und Lebensformen zu unterstützen.

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